Deutsche Redaktion

Kommentar: Ukraines Fortschritte auf dem Weg zur EU. Und ein „Aber"

06.11.2025 14:54
Nach der Veröffentlichung des Berichts am Dienstag, dem 4. November, knallten im Regierungsviertel der ukrainischen Hauptstadt die Sektkorken. Aber: Riskiert die Europäische Kommission mit einem zu sanften Kurs nicht, den Reformwillen in Kiew zu untergraben? Eine Analyse von Osteuropaexperte Tadeusz Iwański.
Szef węgierskiego MSZ: decyzja o pomocy Ukrainie wbrew nam to naruszenie zasad UE
Szef węgierskiego MSZ: decyzja o pomocy Ukrainie wbrew nam to naruszenie zasad UEAlexandros Michailidis / Shutterstock.com

Einmal im Jahr, im Herbst, veröffentlicht die Europäische Kommission sogenannte Enlargement Reports, also Berichte zur Bewertung der Fortschritte, die in den letzten zwölf Monaten von den EU-Beitrittskandidaten erzielt wurden. Seit drei Jahren gehören zu den zehn solchen Staaten die Ukraine sowie Moldau, die 2022 gemeinsam den Kandidatenstatus erhielten. Ein über hundert Seiten umfassendes Dokument für jeden von ihnen bewertet den Stand der Beitrittsvorbereitungen sowie das Reformtempo, aufgeteilt in 6 Cluster mit 33 thematischen Kapiteln.

In Kiew knallen die Sektkorken

Nach der Veröffentlichung des Berichts am Dienstag, dem 4. November, knallten im Regierungsviertel der ukrainischen Hauptstadt die Sektkorken. Die EK stellte unter anderem fest, dass Kiew weiterhin stark in die EU-Integration eingebunden ist, die Screening-Phase zur Überprüfung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem EU-Recht erfolgreich abgeschlossen und Fortschritte bei wichtigen Reformen erzielt hat. Wichtig ist die Feststellung, dass die Ukraine derzeit bereit ist, 3 Cluster zu eröffnen, und bis Ende des Jahres möglicherweise die Bereitschaft zur Eröffnung aller 6 Cluster erreichen kann. Möglich ist auch der Abschluss der sogenannten Beitrittsverhandlungen im Jahr 2028, sofern die Umsetzung der Reformen noch weiter beschleunigt wird, insbesondere im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Infolgedessen erklärte Präsident Selenskyj, dies sei die beste Bewertung, die die Ukraine seit 2023 erhalten habe, und der hurra-optimistische Ton wurde von Vizepremier Taras Katschka, der für die europäische Integration zuständig ist, übernommen. Die Euphorie untermauerte er mit Zahlen: Fortschritte wurden in 15 Kapiteln verzeichnet, in 12 wurde der Fortschritt als hoch bewertet („good progress"), in keinem Kapitel wurde ein Rückgang der Gesamtbewertung der EU-Beitrittsvorbereitungen festgestellt, und in 11 Kapiteln wurde eine Verbesserung der Gesamtbewertung verzeichnet.

 

Der Tropfen Pech im Honigfass - was die Behörden verschweigen

Die gute Stimmung in Kiew resultiert aus der Überraschung über einen so positiven Tenor des Berichts. Seiner Veröffentlichung waren Befürchtungen vorausgegangen, dass das Dokument scharfe Bewertungen zu Kondition der Rechtsstaatlichkeit enthalten würde, praktisch allgemein verbreitet. Darüber hinaus verschweigen die Behörden in offiziellen Mitteilungen die unbequemen Schlussfolgerungen des Berichts, was die Opposition und Anti-Korruptions-Watchdogs mit Genugtuung anprangern. 

Worum geht es? Es geht um praktische Maßnahmen der Behörden in den letzten Monaten, die im Widerspruch zu den erklärten Zielen stehen. Im Juli kam es in der Ukraine zu einem Versuch, die Unabhängigkeit und Kompetenzen wichtiger Anti-Korruptionsinstitutionen einzuschränken – des Nationalen Anti-Korruptionsbüros (NABU) und der Spezialstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAP). Dies löste die ersten gesellschaftlichen Proteste seit Beginn der russischen Invasion aus, woraufhin die Regierenden von den kontroversen Lösungen Abstand nahmen. Aber die Schikanen durch den von den Behörden kontrollierten Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) und das Staatliche Ermittlungsbüro (DBR) gegenüber Beamten dieser Institutionen hörten nicht auf. Ende Oktober wiederum wurde Wolodymyr Kudryzkyj, ehemaliger Chef von Ukrenerho – dem Betreiber des ukrainischen Energiesystems, unter der schlecht dokumentierten Anklage der Veruntreuung staatlicher Mittel verhaftet.

Ziel: Propaganda-Munition für den Kreml vermeiden

Der EK-Bericht prangert diese Pathologien an, obwohl er sie weder im Dokumenttext noch in der öffentlichen Kommunikation hervorhebt. Brüssel will weder Russland noch den EU-Skeptikern der ukrainischen Integration einen Vorwand für Kritik geben. Ziemlich genau – besonders für die ausgewogene Sprache Brüsseler Dokumente – zeigt er auch auf, was Kiew tun muss. „Starke Empfehlungen" zu Korrekturmaßnahmen betreffen vor allem Cluster 1 Grundrechte (Fundamentals). Dieser umfasst unter anderem Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung und hat entscheidende Bedeutung für den weiteren Verlauf der Verhandlungen, da von seiner Eröffnung auch die Eröffnung der übrigen abhängt. Beispiellos sind die Vorschläge zur Änderung der Führung der Nationalen Polizei der Ukraine und des Staatlichen Ermittlungsbüros. Stark klingt auch die Kritik an den Verzögerungen bei der Besetzung der Vakanzen im Verfassungsgericht sowie die Empfehlung zur Verabschiedung eines Gesetzes über das Verfahren zur Wahl und Entlassung des Generalstaatsanwalts.


Wird der sanfte Ton die Regierenden in ihrem Kurs bestärken? 

Der insgesamt positive Tenor des Berichts belegt die enorme Arbeit, die von der ukrainischen Verwaltung, dem Parlament und der Zivilgesellschaft geleistet wurde, die den Staat unermüdlich bei den Reformen unterstützt. Dennoch besteht das Risiko, dass die sanfte Kritik an den Versuchen, Anti-Korruptionsinstitutionen unter Kontrolle zu bringen und den Beamtenapparat durch das Umfeld des Präsidenten einzuschüchtern, die Regierenden in der Überzeugung bestärkt, dass diese Versuche fortgesetzt werden können. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass das NABU am Tag der Veröffentlichung des Berichts mitteilte, dass Staatsanwälte nachts eine Durchsuchung im Haus eines Bürobeamten unter Anwendung körperlicher Gewalt und ohne gerichtliche Genehmigung durchgeführt hatten. Am darauffolgenden Tag wiederum verabschiedete das Parlament in erster Lesung ein Gesetz zur Einschränkung der Medientätigkeit.

Tadeusz Iwański - Leiter des Teams für Belarus, Ukraine und Moldau am Zentrum für Oststudien. In den Jahren 2006-2011 arbeitete er beim Auslandsdienst des Polnischen Rundfunks


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