Deutsche Redaktion

Gazeta Wyborcza: „Reparationen sind nicht die Musik unserer Zukunft"

08.12.2025 12:56
Der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, warnt vor einer Fixierung auf Reparationsforderungen und plädiert für eine engere Zusammenarbeit mit Berlin. Warum schadet die polnische Deutschlandpolitik den eigenen Interessen? Was bedeutet der amerikanische Rückzug für Europa? Und welche Rolle sollten die Deutschen beim Aufbau der polnischen Verteidigungsfähigkeit spielen?
We said: We have treaties, we did this and that, so now please be quiet. That was ignorance and hubris, Kiesewetter said, noting millions of Poles were killed or traumatized and Polands elites were targeted.
“We said: ‘We have treaties, we did this and that, so now please be quiet.’ That was ignorance and hubris,” Kiesewetter said, noting millions of Poles were killed or traumatized and Poland’s elites were targeted.Photo: Artur Bogacki/Shutterstock

In einem ausführlichen Interview mit der linksliberalen GAZETA WYBORCZA zieht der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, eine ernüchternde Bilanz der polnisch-deutschen Beziehungen. Die jüngsten Regierungskonsultationen hätten zwar in guter Atmosphäre stattgefunden, doch die Pressekonferenz von Premierminister und Kanzler habe das Grundproblem offenbart: Für einen echten Schwung in den Beziehungen fehle die gesellschaftliche Akzeptanz – „besonders auf polnischer Seite".




Es gebe keine Zustimmung dazu, offen zu sagen: „Wir wollen und brauchen eine engere Zusammenarbeit, weil es in unserem nationalen Interesse liegt", analysiert der Diplomat. Stattdessen scheine auf polnischer Seite der Gedanke zu herrschen, man werde so viel wie möglich tun, „aber so, dass die Leute nicht zu viel davon erfahren". Mit dieser Methode werde man zu nichts Wesentlichem gelangen.

Besonders scharf geht Reiter mit der Reparationsforderung ins Gericht. Man solle nicht über Reparationen sprechen, sondern über „Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Polen, die sich aus der Geschichte ergeben". Die Bundesrepublik könne mehr für Polens Sicherheit tun – schließlich sei die polnische Ostgrenze auch Deutschlands „erste Verteidigungslinie". Doch Reparationen seien „keine Idee für die Zusammenarbeit mit Deutschland", sondern „eine Idee, sie zu blockieren". Er halte dies für eine Verschwendung nationaler Energie, die heute auf wirklich dringende Angelegenheiten gerichtet sein sollte – vor allem auf die Sicherheit.



“Reparationen sind wie Musik, zu der alle tanzen”

Die Reparationsforderung sei aus Sicht ihrer Urheber „ein genialer Einfall", so der Botschafter. Alle beschäftigten sich damit – selbst jene, die wüssten, dass es ein völlig unrealistisches Ziel sei. Doch sie fürchteten sich, dies zu sagen, aus Angst vor „moralischer Erpressung". Die Reparationen seien „wie Musik, zu der alle tanzen". Manche verzögen dabei das Gesicht und seien unglücklich, täten aber so, als müsse es so sein. „Und als sei das die Musik unserer Zukunft. Aber das ist nicht die Musik unserer Zukunft."

Man müsse hierzu auch daran erinnern, wie es mit den Reparationen wirklich gewesen sei, fährt Reiter fort. Dass Polen in der Volksrepublik zugunsten der UdSSR auf Reparationen verzichtet habe, sei nur ein Teil der Wahrheit. Der andere sei, dass die Amerikaner zusammen mit ihren westlichen Verbündeten entschieden hätten, keine Reparationen von Deutschland einzutreiben. Sie hätten es für besser gehalten, ein Deutschland zu haben, das sich entwickle und ein freundliches, fest in der westlichen Welt verankertes Land werde – anstatt es „unter dem Stiefel zu halten", damit es sich eines Tages auflehne und die europäische Ordnung zerstöre, wie nach dem Ersten Weltkrieg geschehen.

Ob Polen dabei schlecht weggekommen sei? Nein, denn es sei ein Deutschland entstanden, das ein freundliches, „völlig nicht-revisionistisches" Land sei, seine Grenzen und seinen Platz in Europa akzeptiere und ein Interesse an guten Beziehungen zu seinen Nachbarn habe. Nach 1989 hätten die Deutschen Polens Streben nach NATO- und EU-Mitgliedschaft unterstützt. Die heutigen Amerikaner unter Donald Trump wären gegenüber Deutschland und Europa nicht so großzügig – im Gegenteil, laut der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie würden sie sogar „der Entwicklung Europas entgegenwirken".

„Das Misstrauen gegenüber Deutschland hat uns immer nach Osten gedrängt"

Ein solches Ausmaß an Misstrauen gegenüber Deutschland wie in Polen, so der Diplomat weiter, gebe es in keinem anderen europäischen Land. Die Befürchtungen in Südeuropa vor deutscher Hegemonie seien kein ernstes Problem – sie entstünden meist dann, wenn ein Land wirtschaftliche Schwierigkeiten habe und deutsche oder europäische Hilfe benötige, die stets an unbeliebte Bedingungen geknüpft sei.

In Polen sei es anders. „Wir sind historisch und mental näher an Deutschland als die Länder des Südens. Und diese Nähe erschreckt uns manchmal", erklärt der Diplomat. Es handele sich um eine „historische Angst vor dem Verlust unserer Identität", in der sich ein „enormer Unglaube an die eigenen Kräfte" ausdrücke. Warum hätten weder die Dänen noch die Tschechen noch die baltischen Staaten eine solche „deutsche Obsession"? „Weil sie mehr an sich selbst glauben."

Die polnische Deutschlandpolitik folge einer „ABG-Doktrin" – „Anything But Germany" (alles, nur nicht Deutschland). Diese schade auch den Beziehungen zu anderen Ländern, denn weder Schweden noch Dänemark noch die baltischen Staaten würden sich in „antideutsche Intrigen" hineinziehen lassen. Das Misstrauen gegenüber Deutschland habe Polen „immer nach Osten gedrängt". So sei es heute, und so werde es auch in Zukunft sein.
„Deutschland sollte in die polnische Verteidigungsfähigkeit investieren"



Zur Frage, wie man mit Deutschland zusammenarbeiten könne, ohne die Dominanzängste zu nähren, verweist Reiter auf die europäische Integration als Lösung des „deutschen Problems" – ein System gegenseitiger Kontrolle, dessen wichtiger Teil die amerikanische Präsenz in Europa gewesen sei. Doch diese nach dem Zweiten Weltkrieg konzipierten Lösungen erschöpften sich gerade. Die wichtigste Veränderung bestehe darin, dass Amerika sich aus Europa zurückziehe und künftig kein Element des europäischen Gleichgewichts mehr sein werde. Die Europäer würden selbst ein solches System schaffen müssen.
Was Europa heute verbinde, sei die Abschreckung Russlands und die Hilfe für die Ukraine. Dies sei eine „historische Herausforderung nicht für ein oder zwei Jahre, sondern für eine ganze Generation". Von der Antwort darauf hänge ab, wo Europa in zehn bis zwanzig Jahren stehen werde. Wenn Europa dieser Herausforderung nicht gerecht werde, werde es „in konkurrierende Staaten zerfallen". Polen befände sich dann wieder zwischen Deutschland und Russland – „für uns wäre das eine Katastrophe, für Deutschland auch, und nur Russland hätte Grund zur Zufriedenheit".

Deutschland habe eine tiefgreifende Wende vollzogen, betont Reiter. Es habe sich vom Pazifismus verabschiedet, investiere enorme Summen in die Verteidigung und nehme eine harte Haltung in der Ukraine-Frage ein. In dieser Hinsicht setze es „Standards in Europa, besonders in dessen westlichem Teil". Kanzler Merz fordere am nachdrücklichsten das Auftauen der russischen Vermögenswerte und deren Übergabe an die Ukraine.

Die Gefahr durch die AfD

Eine Gefahr stelle jedoch die AfD dar, die Rekorde in den Umfragen breche. Diese Partei sei „antiwestlich" und knüpfe an „prorusssische Traditionen in der deutschen Politik" an. Sie habe auch einen „postfaschistischen, extrem nationalistischen Strang". Für Polen sei am wichtigsten, dass in der AfD eine „national-konservative, prorussische Tradition" wiederauflebe, die der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer nach dem Krieg „ziemlich erfolgreich ausgerottet" habe. Dieser Strang habe sich paradoxerweise in der ehemaligen DDR erhalten.



Sollte es der AfD gelingen, an die Macht zu kommen oder auch nur wesentlichen Einfluss auf das Regieren zu gewinnen, wäre dies ein „Wendepunkt in der deutschen Politik und mit der Zeit in ganz Europa". In Deutschland sei wieder ein Streit darüber nötig, welche Politik zu verfolgen sei: eine national-konservative oder eine dem Westen gegenüber offene. Er sei überzeugt, dass sich die Mehrheit der Deutschen für ein „europäisches, westliches Land" entscheiden werde, das westliche Werte verteidige und sich dem „nationalistischen und prorussischen Kurs" widersetze.

Abschließend appelliert Reiter an Deutschland, in seine Nachbarn zu „investieren". Die Deutschen investierten zu Recht in ihre Streitkräfte. Doch dies werde bedeuten, dass sie bald nicht nur die größte Volkswirtschaft Europas und ein politisch stärkeres Land seien, sondern zusätzlich zu einer „Militärmacht" würden. Er sei nicht sicher, ob alle Europäer das gut aufnehmen würden. Deshalb versuche er seit Jahren in Deutschland zu erklären, dass die Deutschen in die Verteidigungsfähigkeiten Polens investieren sollten – „denn dann wird sie niemand verdächtigen, ihre eigene militärische Macht wieder aufzubauen". Deutschland solle die polnische Militärmacht mitgestalten, denn Polen liege näher an Russland – „dem Ort, von dem die Bedrohung ausgeht". Durch solche mutigen Projekte werde auch Polen militärisch und wirtschaftlich wachsen, so Janusz Reiter im Gespräch mit der Gazeta Wyborcza.

gw/adn

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