Deutsche Redaktion

Das mythologisierte oder das reale Ermland?

31.08.2024 07:59
Ein neues Buch der polnischen Schriftstellerin Joanna Wilengowska ist erschienen.
Die Olsztyner Schriftstellerin Joanna Wilengowska in einem Wald bei Olsztyn in Nordostpolen.
Die Olsztyner Schriftstellerin Joanna Wilengowska in einem Wald bei Olsztyn in Nordostpolen.fot. © Arkadiusz Łuba

Im ermländischen Wald, unweit von Olsztyn im Nordosten Polens, umgeben vom Zirpen der Zikaden, erzählt Joanna Wilengowska von ihrem neuesten Buch „Król Warmii i Saturna“ (Der König von Ermland und Saturn), aber auch von ihrem Vater und der Region, in der sie lebt, ihrer Vergangenheit und Gegenwart. Arkadiusz Łuba hat die polnische Schriftstellerin getroffen und mit ihr gesprochen.


Arkadiusz Łuba: „Meinen Vater festhalten, ihn aufzeichnen, bewahren“ – den Vater, den König von Ermland, den Hüter des ermländischen Siegels. Also handelt es sich hier auch um ein Buch, das als Wächter der Schätze der Erinnerung fungiert, nicht wahr?

Joanna Wilengowska: Ja, das ist es mit Sicherheit. Mein Vater erscheint mir als eine Art Verwalter ermländischer Gesinnungen, Legenden und Mythen; daher schien es mir sehr wichtig, meinen Vater und das, was in seinem Kopf überdauert hat, festzuhalten, denn dort ist eine Art Ermland verankert. Natürlich ist dieses Ermland mythologisiert. Es ist ein Ermland aus Märchen, aus Vorstellungen. Es gibt dort auch Dinge, die an Horror grenzen, wie das Jahr 1945, von dem ich ebenfalls nicht weiß, inwieweit eine Überprüfung aller Fakten ergeben würde, dass etwas anders war, als er mir erzählt. Denn diese Dinge wurden ihm wiederum von jemand anderem erzählt oder von ihm als kleines Kind in Erinnerung behalten. Also ja, ich schreibe die Erinnerungen meines Vaters auf, die Karte seiner Erinnerungen, und ich vertraue darauf, dass auf dieser Karte etwas festgehalten wurde, das sehr wichtig ist. Jedenfalls etwas, das ihn prägt und dafür sorgt, dass er ist, wie er ist.

AŁ: In den Presseinformationen zum Buch sprichst du von dem Versuch, etwas zu bewahren, festzuhalten, aber auch davon, dass dies eigentlich nicht möglich ist. Natürlich kann niemand vor dem unvermeidlichen Tod gerettet werden. Aber man kann doch die Erinnerung bewahren... 

JW: Nun, genau das versuche ich zu tun, auch wenn es nur Fragmente oder „Puzzle“, wie mein Vater es auf Deutsch sagt, sind. Ich versuche, diese Fragmente-Puzzle zu bewahren; ich versuche, daraus etwas zu machen, eine Art Mosaik zu legen oder vielleicht ein Gewebe zu weben, um eine solche Metapher zu verwenden, obwohl ich weiß, dass es für andere vielleicht keine Bedeutung hat; dass wir in einer Zeit leben, in der alles blitzschnell passiert, und dass diese Vergangenheit, das, was mein Vater erinnert, das, was ihm erzählt wurde, vielleicht nicht mehr so wichtig ist. Aber für mich ist es wichtig, und deshalb habe ich beschlossen, es zu tun. 

AŁ: Ja, genau, für dich ist es wichtig. Warum? 

JW: Nun, da ich vielleicht über gewisse [schriftstellerische] Fähigkeiten verfüge (lächelt), fühle ich mich verpflichtet, das zu tun, was ich tun sollte. Ich empfinde es als eine Art meiner Pflicht, meiner Verantwortung, dieses Ermlandtum, das meiner Familie nahe steht, festzuhalten. Ich sehe darin einen Wert und fühle, dass, wenn ich es tun kann, dann tue ich es auch. 

AŁ: Du kümmerst dich um deinen Vater, der Pflege benötigt. War seine ermländische Herkunft der Grund, warum du dich für Ermland interessiert hast? 

JW: Mein Vater ist sicherlich eine sehr interessante, eigenwillige, manchmal nervende, reizende, überraschende und sehr kreative Persönlichkeit. Ich finde, er ist insgesamt eine faszinierende Figur. Seitdem ich mit meinem Vater zusammenlebe, der aufgrund seines Alters und seiner Krankheiten tatsächlich eine gewisse Betreuung und Pflege benötigt, hat seine Persönlichkeit in unserem Zusammenleben eine dominierende Rolle eingenommen. Ich habe versucht, ihn zu verstehen, oder warum bestimmte Dinge passieren; woher seine Wut, sein Zorn und seine Bitterkeit kommen. Und dabei wurde mir klar, dass er eine sehr verletzte Person ist. Dass diese Verletzung auch historische Wurzeln hat; dass er verletzt ist, wie viele Ermländer verletzt wurden; dass er oft verspottet wurde, in seinem Leben aufgrund seiner Herkunft vielfach als „Schwabe“ bezeichnet wurde, obwohl er kein Schwabe ist, sondern ein Ermländer. Er ist auch jemand, der sich stark als Ermländer identifiziert, obwohl das nicht immer gern gesehen wurde, und ich denke, dass es in seiner Jugend noch viel schwieriger war, sich als Ermländer zu bekennen. In meinen Augen ist mein Vater also sowohl als Individuum als auch als archetypischer Ermländer eine sehr interessante Person in jeder Hinsicht. 

AŁ: Wenn es einen ermländischen Vater gibt, so gibt es auch eine ermländische Tochter. Was bedeutet es für dich, eine Ermländerin zu sein? 

JW: Eine Ermländerin zu sein? Das ist eine sehr schwierige Frage und ich habe oft darüber nachgedacht. Ich bin nicht von einer Identitätsnotwendigkeit besessen, mich unbedingt national zu definieren. Es scheint mir ziemlich aufdringlich, jemanden zu fragen, welche Nationalität er oder sie hat. Wir leben in Zeiten, in denen das manchmal sehr schwierig ist. Wir haben Wurzeln, die von hier und dort, und vielleicht sogar von anderswoher stammen. Natürlich sind unsere Staatsangehörigkeiten unterschiedlich, wir haben unterschiedliche Pässe, aber unsere ethnische Zugehörigkeit kann ein Mosaik unserer Herkunft sein. Für mich wurde das Ermländische wichtig, als versucht wurde, mich und viele andere in ein System zu pressen, in dem es nur Polen geben kann. Zu Zeiten der PiS-Regierung wurde eine starke nationale Homogenität propagiert. Wir alle sollen Polen sein. Aber ich mag es nicht, in solche Schubladen gesteckt zu werden, also habe ich auf meine andere familiäre Karte gesetzt, nämlich auf den Teil von mir, der ermländische Wurzeln hat. Dieser Teil schien mir sehr interessant. Ich begann, ihn zu erforschen, mich damit zu beschäftigen, meinem Vater und anderen zuzuhören. Ich traf auch andere Ermländer aus ermländischen Internetforen. Und es schien mir sehr passend und richtig, dass ich mich als Ermländerin definiere. Allerdings bin ich nicht von diesen nationalen Abgrenzungen besessen. Es ist eine von vielen meiner Identitäten. Vielleicht ist eine wichtigere Identität für mich, dass ich eine Frau oder überhaupt ein Mensch bin. 

AŁ: Warum werden diejenigen, die ihr Ermlandtum betonen, nicht ernst genommen? 

JW: Ich glaube, dass Minderheiten im Allgemeinen infantilisiert werden. Ich sehe das daran, wie versucht wird, diese Minderheiten ausschließlich in ein folkloristisches Bild zu pressen, in so ein Märchenland. Dabei könnte es sich doch zum Beispiel um eine reale politische Kraft handeln, nicht wahr? Also in etwas, wovor alle Autoritäten große Angst haben...; und zwar vor solchen Bedingungen, die dazu führen würden, dass Menschen zum Beispiel anders wählen als andere. Wenn Ermländer sehen, dass jemand sehr stark sein Ermlandtum zur Schau stellt, sich in Trachten kleidet, in den Medien oder auf Festen auftritt, dann erscheint ihnen das ein wenig unernst, es ist übertrieben, künstlich, es ist „Cepelia-like“ – das ist kein Ermlandtum, sondern eine Maske, ein Nachahmen. Solche Dinge werden unter Ermländern, wie ich bemerkt habe, als eine Art Clownerie betrachtet, als etwas Unernstes. 

AŁ: Ist es heute in Mode, ein Ermländer zu sein? – Schließlich war das Entdecken der Vergangenheit von Ermland bereits Anfang der 90er Jahre in Mode, als der Verein „Kulturgemeinschaft Borussia“ gegründet wurde... 

JW: Ja, so war es tatsächlich. Und wahrscheinlich ist schon eine neue Generation herangewachsen, die sich daran nicht mehr erinnert, also ist es an der Zeit, sich das wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass unsere Wurzeln hier in Olsztyn zum Beispiel multikulturell, multiethnisch und sehr vielfältig sind und dass die Geschichte von Olsztyn vor das Jahr 1945 zurückreicht. Wir alle sind nicht nur Nachkommen von Zuwanderern aus den Ostgebieten. Es gibt unter uns auch Menschen, die ermländische Wurzeln haben. Und es ist schön, wenn sie diese wiederentdecken. Wenn das eine Mode ist, dann ist das großartig. 


Umschlag des neusten Buches von Joanna Wilengowska „Król Warmii i Saturna“ (Der König von Ermland und Saturn), © Czarne Verlag, Wołowiec 2024 Umschlag des neusten Buches von Joanna Wilengowska „Król Warmii i Saturna“ (Der König von Ermland und Saturn), © Czarne Verlag, Wołowiec 2024

AŁ: Aber das Wort „Autochthon“ ist für dich unbequem. Warum? 

JW: Unbequem und bequem zugleich. Es ist schwierig, hier ein Wort zu finden, das immer und für alle passend ist. Ich weiß auch nicht, welches Wort am besten geeignet wäre. Ich sage wahrscheinlich von mir selbst, dass ich ermländische Wurzeln habe. Ich sage, dass ich Ermländerin bin, im Sinne davon, dass ich ermländische Wurzeln habe, obwohl ich auch andere Wurzeln habe, weil meine Familie eben vielfältige Herkunft hat. 

AŁ: Wie trifft die alte ermländische Welt aus den Erzählungen deines Vaters auf dich, die heute und hier auf dem Ermland lebt? 

JW: Manchmal mache ich Witze, wenn mein Vater mir Teile der Geschichte von Ermland erzählt, weil ich weiß, dass sie ein bisschen ausgeschmückt und übertrieben sind. Und manchmal scheint es mir eine sehr schöne Legende zu sein, der man vertrauen kann; die eine Art Zuflucht ist, etwas Beständiges, einfach etwas Wunderbares. Manchmal mache ich mich darüber lustig. Es ist eben unterschiedlich. 

AŁ: „Die Zeit vergeht, die Wunden bleiben”, schreibst du. Du hast vorhin gesagt, dass dein Vater vor allem ein verletzter Mensch ist. Wachsen denn diese Wunden vielleicht sogar?... 

JW: Nun, mit zunehmendem Alter vergisst mein Vater sicherlich nicht, im Gegenteil, es scheint, als ob sich diese Verletzungen, die er als Kind erlitten hat, in ihm verfestigen oder sogar vertiefen würden. Wir sprechen hier von Dingen, die er gesehen und gehört hat, aber auch im Jahr 1945 und in den folgenden Jahren erlebt hat. Denn die Nachkriegsjahre hier, im ehemaligen Ostpreußen, waren sehr unruhige Jahre. Hier waren die Russen [Ruscy], wie man sie hier nannte. Das waren gefährliche Zeiten. Man konnte geschlagen, ausgeraubt, vergewaltigt werden und so weiter. Auch in den langen Nachkriegsjahren war das Leben traumatisch, ja, traumatisierend. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie in meinem Vater geblieben sind und vielleicht sogar noch zunehmen. Und sie sind der Grund für seine Bitterkeit und Entmutigung. Er ist sicherlich ein verletzter Mensch. 

AŁ: „Der Vater trocknet aus, schrumpft“, schreibst du. Wie Jakob bei Bruno Schulz, wie Professor Ambroży Kleks bei Jan Brzechwa. „Du bist wütend, dass er sterben wird“ und dass „du mit diesem Ermland nun dastehen wirst wie mit etwas, von dem du nicht weißt, was es ist“. Wie möchtest du Ermland nach dem Tod deines Vaters tragen? 

JW: Nun, ich weiß es nicht genau. Vielleicht wird es mich tragen. Und das wäre wahrscheinlich die beste Lösung, denn ich bin zu schwach, um ganze Länder zu tragen. Ich würde mich gerne von Ermland tragen lassen. Ja, sie soll mich tragen. Was meinen Vater betrifft, so ist er tatsächlich eine Schulzsche Figur. Ich habe meine Magisterarbeit über die traumartige Realität in der Prosa von Bruno Schulz geschrieben, also ist es kein Wunder. Es könnte passiert sein, dass ich diesen Schulz einfach aufgesogen habe, als ich damals diese Arbeit geschrieben habe und so tief in seine Texte eingetaucht bin, dass es sich nach vielen Jahren in meinem eigenen Text widerspiegelt. Tatsächlich erscheint mir mein Vater manchmal wie eine Figur eines missmutigen Propheten. 

AŁ: „Łosiery, also Pilgerfahrten, waren ein fester Bestandteil des Lebens- und Jahreskalenders der Ermländer“ – das ist ein weiteres Zitat aus deinem Buch. Jedes Jahr pilgerst du zu den Seen. Sind diese Bäder also eine Pflicht? Warum? 

JW: Freude und Pflicht. Denn es ist einfach ein Genuss, neue Gebiete innerhalb von Ermland zu entdecken; vielleicht auch in den umliegenden Gegenden, denn ich halte mich hier natürlich nicht streng an die Grenzen von Ermland. Es handelt sich auch um die Seen von Masuren oder des Oberlands, aber tatsächlich mache ich seit einigen Jahren etwas Ähnliches: Ich fahre umher, um Seen zu entdecken. Einige davon kenne ich schon seit meiner Kindheit, wie die städtischen Seen von Olsztyn. Olsztyn hat elf Seen innerhalb seiner Grenzen. Aber viele entdecke ich neu. Ich fühle mich wie eine Entdeckerin der Quellen des Amazonas, wenn ich, ganz zerkratzt von Brennnesseln oder gestochen von Mücken, zu einem Waldsee gelange und darin eintauche, als würde ich darin getauft; als wäre ich die erste Person, die überhaupt in diesen See steigt, obwohl das natürlich nicht stimmt. Aber das Leben mit solchen Illusionen ist schön. Ich schaffe mir sozusagen eine Fata Morgana der Erstentdeckung. Ich möchte Ermland besser kennenlernen und habe das Gefühl, dass ich das am tiefsten durch seine Natur tue. Das ist irgendwie mein passendster Weg. Ermland war ein katholisches Land, eine Region, ein Ländchen, das von einem Bischof regiert wurde. Er war hier der Chef. Mich interessiert jedoch das Katholische an Ermland nicht so sehr. Ich könnte es zum Beispiel auf dem Weg der Kapellen erkunden. Das ist ein sehr charakteristisches Motiv der ermländischen Architektur. Aber das tue ich nicht. Ich bevorzuge den Weg entlang der Seen und der Natur, der für mich auch eine sinnliche Erfahrung ist, denn ich berühre Ermland in diesem Moment mit meinem ganzen Körper.