Deutsche Redaktion

„Feindliche Propaganda“ nicht festgestellt

20.04.2022 09:08
1972 besuchen Annalena Baerbocks Großeltern ihre polnische Heimat. Der dortige Staatssicherheitsdienst lässt sie beobachten. Dr. Filip Gańczak, Journalist und Wissenschaftler, ist dieser Spur nachgegangen.   
Alma Choroba
Alma Choroba IPN

Für Ihr Buch „Jetzt. Wie wir unser Land erneuern“ (Ullstein 2021) sah sich die damalige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock mit Plagiatsvorwürfen und viel Spott konfrontiert. Doch zumindest dann, wenn die grüne Politikerin und heutige Chefdiplomatin Privates schildert, wirkt sie in dem 240-seitigen Werk authentisch. Besonders gerne erzählt sie dabei über ihre 2015 verstorbene Großmutter Alma Choroba, der sie sogar eine Widmung zu Beginn der Lektüre schenkt.

Die Familiengeschichte mütterlicherseits beginnt in Baerbocks Buch im Jahre 1958, als die Großeltern „aus dem heutigen Kędzierzyn-Koźle in Oberschlesien nach Niedersachsen“ aussiedeln, wie an einer Stelle zu lesen ist. In einem anderen Kapitel heißt es aber, die Familie kam „aus dem heutigen Kuźnia Raciborska“ in die Bundesrepublik. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich heutzutage anhand von polnischen Archivunterlagen leicht auflösen.

In der Kattowitzer Außenstelle des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) wird jeweils eine dünne Personalakte von Alma Choroba (Signatur: IPN Ka 752/5927) und ihrem Ehemann Leonhard (IPN Ka 752/5927) aufbewahrt. Die Frau kommt 1926 im damaligen Roßberk (inzwischen ein Stadteil von Beuthen, polnisch: Bytom), zur Welt, der Mann wird im gleichen Jahr in Ratiborhammer (polnisch: Kuźnia Raciborska) geboren. Beide Orte werden nach dem Ersten Weltkrieg von Polen beansprucht, bleiben aber auch nach den drei schlesischen Aufständen 1919-1921 bei Deutschland. 1945 wird ganz Oberschlesien polnisch, die dort verbleibende Bevölkerung wird bald zu polnischen Staatsbürgern. Fünf Jahre später heiraten in Kuźnia Raciborska der Dreher Leonhard Choroba und die Verkäuferin Alma geb. Mitrenga. Das Ehapaar bekommt drei Kinder. Das jüngste, Baerbocks Mutter, kommt bereits in der Bundesrepublik zur Welt. Die Familie zieht 1958 als Aussiedler nach Westdeutschland. Als seinen letzten Arbeitsort in Polen gibt Leonhard Choroba Blachownia Śląska (deutsch: Blechhammer) an, inzwischen in die Stadt Kędzierzyn-Koźle (Kandrzin-Cosel) eingemeindet.

Fast zwei Jahre lang leben die Chorobas nach ihrem Umzug „in einem Lager am Rande Hannovers, zusammen mit vielen weiteren Neuankömmlingen aus dem Osten“, so die gebürtige Hannoveranerin Baerbock in ihrem Buch. Schließlich bekomme die Familie eine Dreizimmerwohnung im Hannoverschen Stadtteil Döhren. Laut Archivunterlagen arbeitet Leonhard ab 1961 bei den Continental Gummi-Werken. Alma findet zwei Jahre später eine Anstellung als Reinigungshilfe bei einer Sparkassenfiliale.

In den 60er Jahren unterhalten Warschau und Bonn immer noch keine diplomatischen Beziehungen. Die kommunistisch regierte Volksrepublik Polen führt eine restriktive Visapolitik. Für Aussiedler ist es schwer, Kontakte in ihre alte Heimat zu pflegen. Bei Sterbefall in der Familie lässt sich aber ein Visum leichter bekommen. 1965 wird Leonhard Choroba über den plötzlichen Tod seines jüngeren Bruders Reinhard benachrichtigt. Das Begräbnis finde in zwei Tagen in Kuźnia Raciborska statt, teilt der trauernde Vater Antoni per Telegramm mit. Leonhard darf für fünf Tage einreisen. Das Innenministerium in Warschau findet in seinem Archiv nichts, was dagegen spräche. Leonhards jüngere Schwester Małgorzata Siwczyk bekommt dagegen von den Behörden eine Absage, als Sie kurz danach einen Gegenbesuch in Hannover plant.


Leonhard Choroba / Foto: IPN Leonhard Choroba / Foto: IPN

Ende 1970 unterzeichnen die Bundesrepublik und Volkspolen einen Vertrag „über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“. Mit Edward Gierek tritt bald in Warschau ein Mann an die Parteispitze, der ein liberaleres Gesicht als seine Vorgänger zu zeigen versucht. Anfang 1972 beantragt der damals knapp 70-jährige Rentner Antoni Choroba bei der Bürgermiliz – der volkspolnischen Polizei – für seinen Sohn Leonhard und dessen Ehefrau Alma jeweils eine Einreiseerlaubnis. Der Fall landet beim Staatssicherheitsdienst (SB) und wird genau geprüft. Mit Hinweisen auf „die bestehende Lockerung“ für Einreisen aus der Bundesrepublik, aber auch das hohe Alter des Einladenden und die lange Zeit, die seit der letzten Antragstellung vergangen ist, spricht sich eine Offizierin für eine positive Entscheidung aus. Die Familie sei den Behörden bisher kaum negativ aufgefallen. Lediglich die Witwe von Reinhard Choroba soll früher „Bilder mit Aufschriften in deutscher Sprache“ verteilt haben, was damals als Revisionismus abgestempelt wird.

Aber auch mit Gierek als Parteichef bleibt die VR Polen ein Polizeistaat. Besucher aus der Bundesrepublik geraten automatisch in Spionageverdacht. Drei Monate vor der geplanten Reise richtet der Staatssicherheitsdient an die örtliche Bürgermiliz einen ganzen Katalog von Fragen, die nach dem ausländischen Besuch zu beantworten sind. Haben die Gäste die geltende Meldepflicht beachtet? Welche Orte und Personen wurden von ihnen besucht? Mit welchen Äußerungen sind die Chorobas aufgefallen? Haben sie sich etwa nach Produktionsstätten, Grenzanlagen oder Armeeeinheiten interessiert und diese möglicherweise fotografiert?

Im Mai 1972 kommt dann die Entwarnung. Abgesehen von kurzen Einkaufsausflügen nach Racibórz (Ratibor) und Gliwice (Gleiwitz), hätten die Chorobas bei ihrem 11-tägigen Besuch in Kuźnia Raciborska nur Verwandte und Bekannte besucht, so die Bürgermiliz. Dabei „wurde nicht festgestellt, dass sie feindliche Propaganda verbreiten“ oder Militär- und Industrieobjekte fotografieren. Auch das Verhalten der beiden bei Restaurantbesuchen habe keine Bedenken aufgeworfen.

Die Befunde der Bürgermiliz werden durch Eindrücke eines informellen Mitarbeiters ergänzt, der unter dem weiblichen Decknamen „Danuta“ im Dienste des Staatssicherheitsdienstes steht. Demnach rede Leonhard Choroba bei seinem Aufenthalt in Kuźnia Raciborska viel über den Wohlstand in der Bunderepublik. Er und seine Ehefrau würden stets die Preise vergleichen und betonen, wie groß die Lebensniveauunterschiede zwischen den beiden Ländern sind. Dennoch behaupte Alma Choroba laut „Danuta“, eine Ausreise in die Bundesrepublik müsse man gut überlegen: Die Betreuung von Aussiedlern sei dort nicht mehr so großzügig wie früher. Für das in Polen verlassene Vermögen erhalte man keine Entschädigung mehr.

Davon zeigt sich zumindest Leonhards älterer Bruder Adam unbeeindruckt. 1976 siedelt auch er in die Bundesrepublik aus und lässt sich dann in Solingen nieder. Von den drei Geschwistern bleibt nur noch Małgorzata in Volkspolen.


Filip Gańczak ist Journalist, Wissenschaftler und Autor von Geschichtsbüchern.

Die polnischen Wurzeln von Annalena Baerbock

20.04.2022 12:55
In ihrem Buch hat die damalige Kanzlerkandidatin und aktuelle Bundesaußenministerin Annalena Baerbock unter anderem von den polnischen Wurzeln ihrer Familie mütterlicherseits geschrieben. ​Dr. Filip Gańczak ist dieser Spur nachgegangen.