Am Morgen des 9. Mai teilte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU mit, zwei mutmaßliche Mitglieder eines ungarischen Agentennetzwerks festgenommen zu haben. Im Auftrag eines „Betreuers“ in Budapest sollen sie Informationen über Standorte, Bewegungen, Stärke und Ausrüstung ukrainischer Truppen sowie über Sicherheitskräfte gesammelt haben. Die wichtigste Aufgabe jedoch sei gewesen, die Stimmung unter der Bevölkerung und beim Militär auszukundschaften – für den Fall, dass ein Friedenskontingent in die Region einrücken sollte, insbesondere ungarische Truppen.
Einer der Agenten sei bereits 2021 angeworben, dann „schlafend“ gestellt und im September 2024 wieder aktiviert worden. Die zweite Person soll eine Veteranin der ukrainischen Streitkräfte gewesen sein, die noch in diesem Jahr in einer Einheit in Transkarpatien gedient habe.
Diplomatische Reaktionen
Ungarn wies die Anschuldigungen entschieden zurück und verwies umgehend zwei ukrainische Diplomaten des Landes. Kiew reagierte mit dem gleichen Schritt. Kurz darauf legte Budapest nach und erklärte einen weiteren, ehemaligen ukrainischen Diplomaten zur unerwünschten Person.
Dass ungarische Geheimdienste in Transkarpatien aktiv sind, überrascht kaum. Geheimdienste existieren, um Informationen zu sammeln, die nicht öffentlich zugänglich sind. In der an Ungarn grenzenden Region leben noch immer Zehntausende ethnischer Ungarn. Die meisten sprechen Ungarisch und erhalten großzügige finanzielle Unterstützung aus Budapest.
Ungewöhnlich ist jedoch die Art, wie Kiew die mutmaßlichen Spionageaktivitäten publik machte. Normalerweise regelt man solche Angelegenheiten diskret. Wird dies öffentlich gemacht, so verfolgt die Regierung in der Regel ein Ziel: die Diskreditierung des fremden Staates.
Ungarns Absichten in Frage
Die offengelegten Aktivitäten deuten aus Sicht Kiews auf einen brisanten Verdacht hin: Budapest könnte im Falle eines ukrainischen Zusammenbruchs ein militärisches Eingreifen in Transkarpatien planen. Derartige Mutmaßungen kursierten bereits zu Beginn der russischen Invasion 2022, als ungarische Truppen sich der Grenze zu Transkarpatien näherten. Ob es sich dabei um eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme handelte oder um eine echte Interventionsabsicht, blieb bis heute unklar.
Diese Vorwürfe treffen in der Ukraine auf fruchtbaren Boden. Sie speisen sich aus der historischen Bedeutung, die Ungarn seiner Diaspora beimisst – geprägt durch das Trauma des Vertrags von Trianon – sowie aus der konfrontativen Politik gegenüber Kiew. Dazu zählen die engen Kontakte zu Russland, das wiederholte Blockieren von EU-Hilfen für die Ukraine und das Veto gegen Russland-Sanktionen.
Dauerstreit um Minderheitenrechte
Der Tiefpunkt in den bilateralen Beziehungen war 2017 erreicht, als das ukrainische Parlament ein Bildungsgesetz verabschiedete, das den Gebrauch der ukrainischen Sprache in Schulen stärkte. Dieses schränkte zwar Rechte der ungarischen Minderheit ein, entsprach aber dem legitimen Ziel, die nationale Sprache unter allen Bürgerinnen und Bürgern zu fördern – was in Transkarpatien, besonders in der älteren Generation, nicht immer gegeben war.
Budapest fordert die Rückkehr zu den Sprachregelungen von vor 2014 – einer sehr liberalen Gesetzgebung aus der Amtszeit des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, die vor allem den Gebrauch von Minderheitensprachen, insbesondere Russisch, erleichterte. Trotz Zugeständnissen Kiews an die ungarische Seite – etwa durch Änderungen am Gesetz von 2017 – stellt die ungarische Regierung unter Viktor Orbán immer neue Forderungen. Dies lässt darauf schließen, dass es Budapest weniger um ernsthafte Verhandlungen als um eine politische Blockade Kiews geht.
EU-Beitrittsprozess auf der Kippe
Im Fokus steht aktuell der EU-Beitrittsprozess der Ukraine. Ungarn blockiert derzeit die Eröffnung des ersten Verhandlungskapitels. Ohne Einstimmigkeit unter den EU-Mitgliedsstaaten kann dieser Prozess nicht starten. Zudem mehren sich Befürchtungen, dass die Ukraine vom bisherigen „Integrationspaket“ mit Moldau abgekoppelt wird – einem Land, gegen dessen Beitritt Budapest keine Einwände hat. Dies birgt das Risiko, dass die Ukraine langfristig in einem politischen „Wartezimmer“ bleibt. Zumal Orbáns Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr alles andere als gering sind.
Ziel: Diskreditierung Orbáns
Die Veröffentlichung des Spionagefalls scheint daher Teil einer Strategie Kiews zu sein, Budapest in der EU zu diskreditieren. Es soll gezeigt werden, dass es Ungarn nicht um den Schutz seiner Minderheit, sondern um die Ausnutzung eines historischen Moments geht – nämlich einer möglichen ukrainischen Niederlage im Krieg gegen Russland. Die Botschaft: Orbán ist kein Verteidiger ungarischer Interessen, sondern ein Komplize Putins.
Kiew will damit die EU zu einer härteren Gangart gegenüber Ungarn bewegen und ein kreatives Vorgehen ermöglichen, um die Blockade im Beitrittsprozess zu durchbrechen.
Tadeusz Iwański ist Leiter des Teams Belarus-Ukraine-Moldau am Warschauer Zentrum für Oststudien (OSW). Der studierte Ukrainist und Osteuropa-Spezialist analysiert seit 2011 für das OSW die Innen- und Außenpolitik der Länder der Region. Zuvor arbeitete er in der Ukrainischen Redaktion des Auslandsdienstes des Polnischen Rundfunks (PRdZ) und war Gastwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Ukraine, Belarus und die sicherheitspolitische Rolle Russlands in Osteuropa.