Mitte November fand anlässlich des 100. Geburtstags von Wisława Szymborska eine internationale wissenschaftliche Konferenz statt. In der Europa-Universität Viadrina und im Collegium Polonicum wurde die polnische Literaturnobelpreisträgerin mit mehr als zwanzig Vorträgen geehrt. „»Manche mögen Poesie...« – die internationale Rezeption des Werks von Wisława Szymborska“ – so war der Titel der Konferenz.
Man sprach über Übersetzungen und über die Rezeption, man interpretierte die Gedichte. Man setzte Szymborskas Werk in einen intertextuellen Kontext. Schließlich untersuchte man auch ihre Collagen. Arkadiusz Łuba sieht sie als spezifischen Ikonotext, als private Kommentare zur Realität. Das war das Thema seines Vortrags . Darüber sprechen wir jetzt mit ihm.
Auslandsdienst des Polnischen Rundfunks: Was ist ein Ikonotext?
Arkadiusz Łuba: Also das versteckte Wort »Ikone« in dem Begriff »Ikonotext« deutet darauf hin, dass wir mit einem Bild zu tun haben. Und zu diesem Bild gehört ein bestimmter Text. Und nur beide zusammen geben die gesamte, volle Bedeutung den Betrachtenden/den Empfängern. So, dass das Bild alleine und der Text alleine was anderes bedeuten können, als die beiden Elemente zusammen. Mit Ikonotexten haben wir beispielsweise bei Memes, Cartoons und Comics zu tun. Ich versuche eben Szymborskas Collagen ähnlich wie die politischen Cartoons und Memes zu sehen, zu lesen, zu betrachten.
Konnte denn Szymborska Comics?
Nun ja, als sie 1945 ihr erstes Gedicht zum Druck brachte, wusste sie, dass wenn dieses nicht genommen wird, wird sie nicht mehr schreiben. Das sagte sie in einem Interview. In dem gleichen Interview sagte sie auch, dass wenn sie keine Dichterin geworden wäre, hätte sie gerne gezeichnet. Sie erwähnte dabei zwei polnische Karikaturisten Kazimierz Sichulski und Andrzej Stopka als Referenz. Sie würde, wie die beiden gerne zeichnen; die gesamte Weltpanorama mit nur einem sparsamen Strich umzeichnen und dabei ein bisschen verspotten, sagte sie. Nun kam es eben anders – das Gedicht wurde genommen. Aber sie hat auch bewiesen, dass sie durchaus zeichnen kann! Für ein Englisch Abc-Buch von 1946 und für ein Kinderbuch über den Kater Mruczek von 1948 zeichnete sie mit einer cartoonhaften, reduzierten Linie Illustrationen. Und dann kamen die Collagen.
Und diese lassen sich dann als Cartoons interpretieren?
Politische Cartoons und Memes dokumentieren und halten fest die Realität, kommentieren und verspotten sie. Szymborskas Spott – wenn er überhaupt schon da ist – ist milde und verletzt niemanden. Ganz nach der Maxime des erwähnten Karikaturisten Andrzej Stopka, den sie verehrte. Sie kommentiert eher mit Augenzwinkern. Wir wissen nicht, was Szymborska gedacht hat, als sie ihre Collagen anfertigte. Aber sie hat ihre Motive sorgfältig ausgewählt, diese genauso zusammen gesetzt. Und sie klebte Ihre Postkarten mit einem bestimmten Empfänger im Hinterkopf zusammen. Ich denke, sie dachte damals nicht direkt an politische Cartoons, aber es lässt sich wiederum auch nicht komplett ausschließen. Mit dem Text der Korrespondenz und manchmal nur durch die ausgewählten Motive dokumentieren und kommentieren sie schließlich auch das politische und gesellschaftliche Geschehen.
Wie du sagst, bediente sich Szymborska für ihre Collagen verschiedener Motiven, die sie aus Buntmagazinen, Zeitungen und des Gleichen mehr herausgeschnitten hat. Oft auch der Kunst...
Ja, sie mochte beispielsweise Leonardos Die Dame mit dem Hermelin und Mona Lisa. 1998 setzte sie den Kopf von Mona Lisa ans Lenkrad eines alten Autos auf eine Postkarte für Stanisław Barańczak, ihren Freund und Übersetzer ins Englische. Man sagt, er habe die schönsten und die zahlreichen Collagen von Szymborska erhalten. Diese konkrete Collage betitelte Szymborska als Mona Lisa in einem prahlerischen Auto aus den Zwanzigern. Das Bild ist sehr suggestiv, es verbindet die schwarz-weiße Vergangenheit mit der Moderne eines bunten Autos. Als ob Szymborska die Renaissance-Ikone in die Gegenwart importieren würde. Im kommunistischen Polen war ein Auto ein Symbol von Wohlstand und Freiheit. Nach der Wende 1989 stand es besonders für die Freiheit, wie die Reporterin Olga Gitkiewicz in ihrem Buch Nie zdążę (Ich komm zu spät) bestätigt. So wird Szymborskas Mona Lisa auch zu einer freien, emanzipierten Frau. In der Werbung der 20er Jahre wurde gerne eine junge, freie, unabhängige Frau mit einem Auto oder anderen technischen Neuigkeiten gezeigt. Frauen nahmen an Autorennen teil! So sehe ich in der Collage die französische Schauspielerin und begeisterte Rallyfahrerin Colette Salomon in ihrem Bugatti Typ 35, abfotografiert 1927 in der „Vogue“ und Tamara Łempickas Gemälde Selbstporträt in grünem Bugatti, die sie für die exklusive Frauenzeitschrift „Die Dame“ 1929 gemalt hat. Vielleicht sah die beiden Bilder auch Szymborska, wenn sie ihr Collage-Auto in die 20er platziert hat. Allerdings lag sie dabei falsch. Während der Konferenz zeigte die Collage auch eine Universitätsprofessorin aus Breslau, die Szymborskas Collagen mit den kurzen Zeichentrickfilmen von Terry Gilliam verglich. Sie tippte auf ein Bentley und suchte nach Bestätigung. Ich konnte sie und das Publikum darüber aufklären, dass es laut meiner Archiv-Recherche ein Produkt des Autokonzerns „Auto-Union“ ist und Ende der 30er/Anfang der 40er Jahre produziert wurde.
Die Collage sehe ich als einen Kommentar zur modernen Technik, zur Freiheit und natürlich als einen Feminismus-Ausdruck. Man könnte auch eine Parallele zu Leonardo sehen. Der Universalkünstler der Renaissance zeichnete doch auch Pläne von Fahr- und Flugmaschinen, war also an moderne Technik unheimlich interessiert. Man merkt also, was alles man in diesen 14,7x10,5 cm-großen Postkarten – dem Format, das Szymborska benutzte – entdecken kann. Das waren keine bloßen Spielereien einer „netten, alten Dame“, wie man Szymborska oft nannte. Allerdings machte sie sie auch aus Spaß an der Sache und im privaten Freundeskreis. Erst 1981 in den USA und 2003 in Polen konnte man die ersten Collagen öffentlich im Druck sehen.
Unter den Roman-Autoren standen nun Thomas Mann und sein Zauberberg an der Spitze. Du sprichst auch von einer Thomas-Mann-Collage in Deinem Text...
Diese Collage ist eine besondere. Sie wurde nämlich an niemanden verschickt und ich habe sie im Szymborska-Archiv an der Jagiellonen Universität während meiner von der Polnischen Botschaft in Berlin finanzierten Recherche entdeckt. Die Collage ist aus zwei Elementen gebaut. Es ist eine Postkarte mit einem Foto der Skulptur „Der Wager” des Nazibildhauers Arno Breker. Diese Skulptur wurde im Jahre 1939 geschaffen, für den Runden Saal der neuen Reichskanzlei in Berlin. Sie ist eine monumentale Plastik, wie der Stil, in dem die neue Welthauptstadt Germania des Naziarchitekten Albert Speer geplant war.
Szymborskas gelingt hier mit einem einfachen Schritt etwas Geniales. Sie klebt einen großen Kopf von Thomas Mann anstelle des originellen Kopfes der Skulptur. So ersetzt sie den Wager der Nazis durch ihren eigenen Wager – durch Thomas Mann. Manns Kopf ist überproportional und dominiert den perfekten Körper eines Übermenschen, könnte man sagen. Dem Ideal der Nazi-Verbrecher wird dadurch ein schöner und mutiger Mensch entgegengesetzt, der trotz des Risikos etwas wagt. Wie Thomas Mann eben, der doch gegen die Nazis war und es auch artikulierte. Szymborska ist sich der ambivalenten Natur eines Menschen bewusst und spricht sich für ihre gute Seite aus. Gleichzeitig prangert sie mit ihrer Collage das mit Faschismus vergiftete System an. Herrlich, oder?
Ja, man kann es definitiv als Kritik sehen. Somit waren Szymborskas Collagen politisch und gesellschaftlich. Sie bastelte beispielsweise eine Collage über die Ehe. Man sieht darauf ein Ehepaar und einen Text „5 Jahre Garantie”... Was würde dazu die Sittenpolizei sagen?
Ja, das ist interessant. Ich habe im Polnischen Statistikamt nachgeschaut und während Szymborskas Lebenszeiten steigerte die Dauer der Ehen in Polen kontinuierlich. Im Jahr ihres Todes 2012 betrug sie ca. dreizehn Jahre. In den 50er Jahren aber, in den Jahren also, in denen sie mit Adam Włodek verheiratet war 1948-1954, betrug die Dauer tatsächlich fünf Jahre – wie ihre eigene Ehe. Das ist vielleicht ein Zufall. Die Collage entstand zwar später, die Unterschrift passt aber perfekt in die erwähnte Statistik. Vielleicht kannte Szymborska diese auch, was ein Beweis dafür wäre, dass sie ihre Zeiten, die Realität in der sie lebte, genau unter die Lupe nahm. Das sieht man eh, wenn man ihre Gedichte liest. Oder aber machte sie selber diese Beobachtung, was mit polnischen Ehen passiert, was wieder für ihr genaues Auge sprechen würde.
Du hast auch in dem Karl Dedecius Archiv in Słubice geforscht. Szymborska hat ihre Collagen u.a. an ihren Übersetzer ins Deutsche geschickt. Wenn Szymborska heute noch gelebt hätte, mit welcher Collage würde sie das heutige Polen illustrieren, kommentieren? Was würde sie Karl Dedecius schicken?
Das hat sie eigentlich schon im Jahre 1992 getan. Sie schrieb damals im März: „Erreichen Euch Nachrichten aus Polen? Bei uns hier steht’s nicht zum Besten, soviel ist sicher. Aber falls Du von irgendwelchen Besessenen, Hassern, Nationalisten oder Fanatikern hörst, denke bitte nicht, dass bei uns alle so sind...“. Dieses Fragment bezieht sich direkt auf die antiromanischen Unruhen von 1991 in Mława, einer Stadt gelegen mittig zwischen Allenstein und Warschau; auf die antiromanischen Unruhen also, gezielt gegen den Besitz der reichsten Vertreter dieser lokalen Minderheit. Doch Polen hatte derzeit auch mit anderen Plagen zu kämpfen. Mitte 1991 brach ein Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem Sejm auf, die Regierung war instabil. Die Industrie und die Landwirtschaft waren in einem miserablen Zustand. Eine riesige Inflation herrschte. Quasi „auf Schritt und Tritt” – wie die schwarze Katze auf der Collage beschriftet wurde – deckte man politische Skandale auf. Und die schwarze Katze selbst steht doch als Symbol für Unglück, Sünde, Egoismus und des Gleichen mehr. Diese Collage ist heute sehr aktuell, wenn wir an die polnische Xenophobie, den Antisemitismus, Populismus, politische Hetze usw. denken...