Deutsche Redaktion

Spektakel mit austauschbaren Rollen

20.11.2020 12:35
Es geht um Abtreibung, Patriotismus, Proteste und die geschwächte oder doch gestärkte Regierung.  
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Rzeczpospolita: Kafkaeskes Spektakel mit austauschbaren Rollen

Das Blatt Rzeczpospolita schreibt am Freitag über weitere Proteste von Jugendlichen in Warschau. Eine Woche nach dem Unabhängigkeitstag und Ausschreitungen während des patriotischen Marsches durch die Hauptstadt am 11. November, seien anlässlich des neulichen Protestes gegen das geplante Abtreibungsgesetz wieder dieselben Stimmen zu hören. Einerseits Provokations-Vorwürfe gegen die Polizei, Anschuldigungen, das sich Ordnungsfunktionäre wie Banditen verhalten haben und mit Gewalt gegen Journalisten vorgegangen seien. Auf der anderen Seite: der illegale Protest, die Aggression der Teilnehmer, dass sie nach einer Gelegenheit für Unruhen gesucht hätten. Und wieder einmal, bemerkt die Tageszeitung, hätten beide Seiten, je nach Weltanschauung, die Plätze in diesem kafkaesken Spektakel gewechselt. Die einen kritisieren diesmal die Polizei, die anderen die Demonstranten. Was aber am schlimmsten sei, überzeugt das Blatt, kaum jemand sei von diesem spezifischen Rollenwechsel noch überrascht, und Kommentatoren, die die Maßnahmen der Polizei vor einer Woche während des Marsches der Nationalisten gelobt haben, seien heute aufrichtig überrascht von der Aggression der Beamten gegenüber den Teilnehmern des Frauenstreiks.

Die Diskussion beider Seiten werde dadurch bedeutungslos, glaubt das Blatt, weil beide Seiten in ihren "Identitätsblasen" eingeschlossen seien. Und genau wie vor einer Woche, sollen Algorithmen sozialer Netzwerke im Internet der einen Seite nur Videos über aggressive Fußballfans und geschlagene Polizisten zeigen. Die andere Seite wiederum soll nur Polizisten in Zivil zu sehen bekommen, die auf Demonstranten einschlagen.

Es sei zwar großartig, dass wir dank der technologischen Revolution Berichte aus erster Hand erhalten, meistens einem Smartphone, aber man sollte nicht vergessen, dass solche Aufnahmen keine größere Chance hätten, andere Identitätsblasen zu erreichen. Man könne dadurch die objektive Wahrheit nicht feststellen und die andere Partei von den eigenen Argumenten überzeugen. Wenn aber niemand versuche Informations-Bruchstücke beider Seiten zu verknüpfen und die Realität so zu beschreiben, wie sie ist, so würden beide Seiten endlos dazu verdammt sein lediglich Kostüme auszutauschen und die gleichen Szenen immer und immer wieder ohne Pointe zu rekonstruieren. Solange bis dieses kafkaeske Spektakel für alle schließlich einfach langweilig werde, lautet das Fazit in der Rzeczpospolita.

Dziennik/Gazeta Prawna: Abtreibungsbatalie schwächt PiS aber lässt Wähler ohne Fluchtweg

Dziennik/Gazeta Prawna schreibt indes, dass die Unruhen um das geplante Abtreibungsgesetz die Regierungspartei (PiS) zwar geschwächt hätten, aber bisher gebe es kaum Anzeichen dafür, dass die Image-Verluste nicht nachgeholt werden könnten. Insbesondere, so das Blatt, wenn die Regierung die Pandemie ausnutze und die Veröffentlichung des umstrittenen Urteils des Verfassungsgerichts zur Verschärfung des Abtreibungsgesetzes dauerhaft einfriere.

Umfragen zufolge, soll ein großer Teil der PiS-Wähler die Ausweitung des Abtreibungsverbots nicht unterstützen, aber zugleich keine Alternative zu der regierenden konservativen Rechten im Land sehen. Viele sollen deshalb planen, schreibt das Blatt, an den nächsten Wahlen nicht teilzunehmen.

Entgegen den Erwartungen vieler Kommentatoren, heißt es weiter, habe die Linke aus den jüngsten Ereignissen keinen politischen Nutzen ziehen können. Die Unterstützung für sie bleibe unter dem Wahlergebnis aus dem letzten Jahr. Es werde schwierig sein, durch die Proteste politisches Kapital aufzubauen, weil die Demonstranten, obwohl ihr Hauptmotiv das Thema Abtreibung sei, keine positive Vision hätten und die Kluft zwischen Verteidigern von Kompromissen und Befürwortern der Liberalisierung weiterhin sehr groß bleibe. Vielleicht sei dies teilweise der Grund, bemerkt das Blatt, warum die Linke während der Proteste in den Schatten getreten sei und radikaleren Gruppierungen die Bühne überlassen habe.

Die Stagnation der Linken könne auch bedeuten, dass die meisten "Identitätswähler" in ihrer Reichweite bereits mobilisiert seien und keinen parteiischen Ansporn bräuchten. Die Unterstützung für die Linke, prognostiziert das Blatt, könnte nur in einer etwas längeren Perspektive wachsen. Ihre potenzielle Wählerschaft seien nämlich radikale Jugendliche, die nur darauf warten, das Wahlrecht zu erhalten. Die letzten Wochen sollen gezeigt haben, dass paradoxerweise, der größte Verbündete von Kreisen, die sich um die Trennung der Kirche vom Staat oder die Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes kümmern, die radikale Rechte sein werde, die immer mehr von der Realität losgelöst sei.

Gazeta Polska Codziennie: Unerwarteter Erfolg der PiS

Der Chefredakteur der regierungsnahen Zeitung GPC, Tomasz Sakiewicz, meint, dass die öffentliche Meinung das polnische Veto gegen den EU-Haushalt unterstütze. Der Grund sei der Versuch der deutschen Ratspräsidentschaft, einen Zusammenhang zwischen der Zahlung der Finanzmittel und der sogenannten Rechtsstaatlichkeit herzustellen. Laut Meinungsumfragen, werde das Veto in dieser Frage von fast doppelt so vielen Polen (57 Prozent) unterstützt als die derzeitige Unterstützung für die PiS-Regierung ausmache. Der Grund dafür, glaubt der Autor, sei, dass der schwierige Schritt der Regierung in den Medien perfekt vorbereitet worden sei.

Bereits einen Monat zuvor soll der Vorsitzende der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, öffentlich vor der Möglichkeit eines polnischen Vetos gewarnt und Gründe dafür erläutert haben. Die Debatte um dieses Thema, soll die Position Polens gestärkt haben. Sowohl der Premierminister, der Justizminister und schließlich der Präsident sollen das Wort ergriffen haben. Polen hätten dadurch die Bedeutung und das Wesen des Problems verstanden. Unabhängig von der Zukunft des Vetos könne deshalb gesagt werden, dass Polen im internen Bereich einen großen Erfolg erzielt habe. Und dies sei eine Lehre für die Zukunft: Polen könnten überredet werden, schwierige Entscheidungen zu treffen, aber zuerst müssten sie über diese gründlich aufgeklärt werden, so der Chefredakteur der Gazeta Polska Codziennie am Freitag.


Piotr Siemiński