Deutsche Redaktion

"Heißes Getreide"

18.04.2023 13:03
Das von einem Tag auf den anderen eingeführte Importverbot für ukrainisches Getreide dominiert die heutigen Pressekommentare. Und ähnlich, wie auf ukrainischer Seite, so dominiert auch unter den meisten Publizisten in Polen vor allem ein Gefühl: das der Fassungslosigkeit. Ein Blatt übt sich in Schadensbegrenzung.
Fogiel: na posiedzeniu rządu w przyszły wtorek zostanie przedstawiona propozycja legislacyjna MRiRW w sprawie zboża
Fogiel: na posiedzeniu rządu w przyszły wtorek zostanie przedstawiona propozycja legislacyjna MRiRW w sprawie zbożaFotokostic / Shutterstock

Rzeczpospolita: Getreide-Falle für viele Unternehmen

Statt einer Milderung der polnisch-ukrainischen Spannungen rund um wirtschaftliche Themen, die sich viele vom neuerlichen Besuch des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj in Warschau erhofft haben, hat das am Wochenende eingeführte Einfuhrverbot für ukrainische Agrarprodukte nach Polen den Konflikt beiderseits der Grenze dramatisch zugespitzt, schreibt die konservativ-liberale Rzeczpospolita auf ihrer Titelseite. “Dies ist nicht nur ein Schlag für ukrainische Exporteure, sondern auch für polnische Unternehmen, die aus der Ukraine exportieren”, alarmiert der Chef der polnisch-ukrainischen Handelskammer, Jacek Piechota. Überraschend, lesen wir weiter, seien einerseits auch die Art und Weise gewesen, in der das Verbot eingeführt worden sei: ohne Konsultationen, unter Verletzung von EU-Vorschriften, und andererseits der Zeitpunkt der Entscheidung - zwei Tage vor dem zuvor geplanten Treffen der polnischen und ukrainischen Agrarminister in Warschau. Unbegreiflich sei auch das Verbot für den Transit von ukrainischen Agrarerzeugnissen. 

Laut der Nationalen Handelskammer werde die Entscheidung der polnischen Regierung zahlreiche Probleme für Unternehmen nach sich ziehen, die in den Handelsaustausch mit der Ukraine engagiert sind. “Das sind plötzlich, wie per Messerschnitt, blockierte Lieferungen, nicht erfüllte Verträge und verlorene Anzahlungen”, zählt der Chefvolkswirt der polnischen Handelskammer, Piotr Soroczyński auf. Auf staatlicher Ebene, so der Experte, würden die Folgen noch akuter ausfallen, da wir uns als unberechenbarer Partner präsentieren. “Das schwächt unsere Verhandlungsposition bei einer Reihe von potenziellen Geschäften, darunter bei Projekten zum Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur, der dortigen Produktionsbasis, und sogar bei der Lieferung, der für den Wiederaufbau und die Renovierung von Häusern notwendigen Produkte”, warnt Soroczynski.

Die Entscheidung vom Samstag zeige, dass die von der Regierung zugesicherte Unterstützung für ukrainische Unternehmen im Zusammenstoß mit dem internen Kampf um Wählerstimmen vor den Wahlen den Kürzeren gezogen hat. Zugleich habe die Regierungspartei PiS ein weiteres Konfliktfeld mit der Europäischen Kommission eröffnet, das umso größer sei, da Polens Entscheidung einen Dominoeffekt ausgelöst habe. Denn auch Ungarn und die Slowakei hätten, wie das Blatt erinnert, ihre Grenzen für ukrainische landwirtschaftliche Produkte geschlossen. Bald könnte auch Rumänien folgen. “Wenn diese Grenzen nicht geöffnet werden, werden die ukrainischen Agrarunternehmen und Landwirte bankrott gehen", sagt Alex Lissitsa, Vorsitzender des an der Warschauer Börse notierten ukrainischen Unternehmens IMC, Gründer und Vorstandsmitglied des ukrainischen Agribusiness Club im Gespräch mit der Rzeczpospolita. 

Rzeczpospolita: Polen hat keine Außenpolitik

Das plötzlich durch Polen verkündete Transit- und Importverbot für ukrainische Lebensmittel freue wahrscheinlich nur den Kreml, schreibt in seiner Stellungnahme der Publizist der Rzeczpospolita, Piotr Skwirowski. Es, so der Autor, stelle sich daher die Frage, ob die von der Regierungspartei geplante Sonderkommission zu russischen Einflüssen auf die interne Sicherheit Polens ihre Arbeit nicht mit der Untersuchung der Hintergründe ebendieser Entscheidung beginnen sollte. 

Ähnlich im Ton auch der Kommentar des Redaktionskollegen von Skwirowski, Jędrzej Bielecki. All die Spekulationen über die sich verschiebenden Schwerpunkte der internationalen Politik in Richtung Warschau und Osteuropa, so Bielecki, all das sei am vergangenen Samstag verpufft. Polen, so der Autor, habe sich unerwartet in der Gesellschaft  von Viktor Orbáns Ungarn, Putins trojanischem Pferd in der EU, wiedergefunden, das beschlossen hat, einen ähnlichen Schritt zu machen. Und vielleicht auch von Bulgarien, des kulturell am stärksten mit Russland verbundenen EU-Staats. Die von Regierungspolitikern gerne beschworene "Kompromisslosigkeit" bei der Unterstützung für die Ukraine sei durch fehlende Konsultationen mit Kiew über das Vorgehen gegen das Problem der kollabierenden Lebensmittelpreise ersetzt worden. Und im Kreml habe man sich die Hände gerieben: nach den skandalösen Äußerungen von Emmanuel Macron zur Taiwan-Frage, habe die europäische Einigkeit angesichts der russischen Aggression einen weiteren schmerzhaften Schlag erhalten. 

Den vielleicht höchsten Preis dafür, Parteiinteressen und den Kampf um Wählerstimmen den Vorrang vor Staatsinteressen gegeben zu haben, so Bielecki, werde Polen jedoch in den Beziehungen mit Brüssel zahlen. All das in den letzten Monaten gesammelte politische Kapital hätte Warschau eigentlich dazu nutzen können, das Patt im Streit um die Rechtsstaatlichkeit zu durchbrechen, EU-Mittel für Polen zu befreien und damit zu einer natürlichen Führungsmacht in der Region aufzusteigen. Die Getreidekrise mache all diese Möglichkeiten jedoch zunichte. Denn Geschäfte mit einem Staat, der nicht nur fundamentale EU-Vorschriften nicht respektiere, aber dessen Außenpolitik ein Derivat der internen Popularitätswerte der Regierungspartei sei, könne man einfach nicht machen, so Jędrzej Bielecki in der Rzeczpospolita. 

Gazeta Wyborcza: Heißes Getreide

Die Entscheidung zum Einfuhrverbot sei nicht nur nicht mit den Ukrainern, sondern auch nicht mit Staatspräsident Andrzej Duda abgesprochen worden, der Wolodymyr Selenskyj vor zwei Wochen in Warschau Polens volle Unterstützung für die Ukraine zugesichert habe, beobachtet in ihrem Aufmacher die linksliberale Gazeta Wyborcza.”Wir haben dies im Präsidentenpalast analysiert und die ganze Situation trifft aus unserer Sicht nicht den Präsidenten, sondern leider vielmehr Premierminister Mateusz Morawiecki. Seine Leute hatten versichert, dass das Getreide-Abkommen mit der Ukraine fast fertig sei. Und dann ist der Vorsitzende Kaczyński gekommen und hat den Tisch umgekippt. Das kompromittiert unseren Staat”, sagt ein Gesprächspartner aus dem Umfeld des Staatspräsidenten im Gespräch mit dem Blatt. Weder der Präsident noch seine Mitarbeiter, so die Zeitung, hätten das Vorgehen der Regierung bis dato offiziell kritisiert. Auch die Europäische Kommission sei überrascht, wolle vorerst aber offenbar auf die Anwendung disziplinarischer Instrumente (einschließlich finanzieller Sanktionen) verzichten - auch wegen des kurzen Zeitraums des Embargos.

Am Rande gesagt, so Gazeta Wyborcza, löse das von der PiS eingeführte Verbot das Problem nicht im Geringsten - die Silos seien bereits voll und das Verbot für neues Getreide werde am Vorabend der nächsten Ernte enden. In der zweiten Hälfte des Jahres werde also ukrainisches Getreide wieder importiert werden können. Die Art und Weise, wie PiS-Chef Kaczyński entschieden habe, das Problem des ukrainischen Getreides anzugehen, werde dennoch zweifellos internationale Konsequenzen haben und drohe, das gesammelte politische Kapital zunichte zu machen, schreibt in seinem Autorenkommentar der Publizist der Gazeta Wyborcza, Bartosz Wieliński. 

Gazeta Polska Codziennie: Opposition ändert Meinung zu Getreide

Die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie versucht in der aktuellen Ausgabe indes die Kritik an der abrupten Entscheidung der Regierung zu entschärfen, indem sie der Opposition unter anderem fehlende Konsequenz vorwirft. Diese, so die Zeitung in dem entsprechenden Artikel, habe schließlich selbst Zölle für ukrainisches Getreide gefordert. Und nun, wenn die PiS versucht, das Problem zu lösen, werfe sie der Regierungspartei vor, Polen aus der EU führen zu wollen. Auch den EU-Beamten habe Polens Entscheidung nicht gefallen, so das Blatt weiter.  

Als Schwerpunkt der heutigen Ausgabe setzt die Zeitung jedoch sicherheitshalber ein anderes Thema. Und zwar die Ankündigung des Ex-Verteidigungsministers und Chefs des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Smolensk-Katastrophe Antoni Macierewicz, internationale Menschenrechtsorganisationen für die Smolensk-Katastrophe interessieren zu wollen. “Steckbrief für die Mörder des polnischen Staatspräsidenten. Es besteht die Chance darauf, dass die Attentäter von Smoleńsk so verfolgt werden, wie die Völkermörder aus Butscha”, lesen wir im Aufmacher der aktuellen Gazeta Polska Codziennie.

Autor: Adam de Nisau