Die polnisch-ukrainischen Beziehungen dominieren die heutigen Pressekommentare.
Breit kommentiert wird vor allem der gestrige gemeinsame Gottesdienst von Staatspräsident Andrzej Duda und Ukraines Staatsoberhaupt Wolodymyr Selenskyj für die Opfer des Wolhynien-Massakers von vor 80. Jahren im ukrainischen Luzk. Bei dem Massaker hatten ukrainische Nationalisten von der UPA zwischen Februar 1943 und Februar 1944 bis zu 100 Tausend auf ukrainischem Staatsgebiet lebende Polen ermordet. Das Massaker belastet die beiderseitigen Beziehungen bis heute, da die Ukraine die Ereignisse von damals weiterhin nicht als Völkermord anerkannt hat und Soldaten der UPA landesweit immer noch als Helden geehrt werden.
Rzeczpospolita: Wichtiger Schritt von Selenskyj
Der Publizist der konservativ-liberalen Rzeczpospolita Jerzy Haszczyński bewertet den gestrigen gemeinsamen Gottesdienst in seinem Kommentar positiv und bezeichnet ihn als “wichtigen Schritt von Präsident Selenskyj”. Es, so der Autor, sei eine signifikante Geste im Vorfeld des 80. Jahrestags des so genannten blutigen Sonntags gewesen. Denn man habe befürchten können, dass die polnischen Politiker der Opfer letztendlich alleine in den sozialen Medien und in den Getreidefeldern gedenken werden müssen, wo einst polnische Dörfer gewesen seien, bevor sie, gemeinsam mit den durch ukrainische Nationalisten ermordeten Einwohnern verschwunden seien. Selenskyj, so Haszczyński, habe jedoch inmitten der großen diplomatischen Offensive vor dem für sein Land wichtigen NATO-Gipfel in Vilnius Zeit gefunden, um sich in Luzk mit Duda zu treffen.
Es, so Haszczyński, habe sich so ergeben, dass der morgige Gipfel in Vilnius genau auf den 80. Jahrestag des blutigen Sonntags fällt, an dem die UPA tausende von Polen ermordet habe. Seitdem habe sich enorm viel in den Beziehungen zwischen beiden Ländern getan. Doch Wolhynien würde das beiderseitige Verhältnis immer noch belasten. Und auch, wenn der Gottesdienst in Luzk generell ein gutes Signal sei, zeige er auch, dass es bis zur vollständigen Aufarbeitung noch ein weiter Weg sei. Beide Politiker seien, wie der Autor beobachtet, in ihrer Wortwahl sehr vorsichtig gewesen. "Gemeinsam ehren wir alle unschuldigen Opfer von Wolhynien! Die Erinnerung vereint uns! Gemeinsam sind wir stärker", sagte Selenskyj. Auch Duda habe kontroverse Aussagen gemieden: "In Luzk in Wolhynien, am Jahrestag des blutigen Sonntags, haben wir gemeinsam mit Präsident Selenskyj den ermordeten Polen Tribut gezollt", schrieb Polens Staatspräsident. Vor 20 Jahren seien beide Völker da schon etwas weiter gewesen. Damals habe Präsident Aleksander Kwaśniewski während einer Gedenkfeier mit seinem ukrainischen Amtskollegen Leonid Kutschma nicht nur über die Opfer, sondern auch über die Täter und die Ideologie gesprochen, die zur "antipolnischen Aktion" und zum Völkermord durch ukrainische Nationalisten geführt habe. Und an diesen Punkt, betont der Publizist, müssten wir wieder gelangen, ohne übermäßigen Druck auf Selenskyj auszuüben - insbesondere in einer Zeit, in der das Schicksal eines großen Krieges in der Schwebe sei.
Während dieses Krieges werde das Wort "Völkermord" für die von russischen Invasoren begangenen Kriegsverbrechen verwendet, wie zum Beispiel das Massaker an Hunderten von Bewohnern von Butscha in der Oblast Kiew im März letzten Jahres. Wolhynien sei ein gewaltiges Butscha gewesen. Selenskyjs Geste gebe Hoffnung, dass die ukrainischen Eliten bereit seien, sich den Fakten von vor 80 Jahren zu stellen, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita.
Dziennik/Gazeta Prawna: Bedeutende Gesten ohne Durchbruch
Viel kritischer sieht die bisherige Bilanz des 80. Jahrestags von Wolhynien der Publizist und Kriegskorrespondent des Wirtschaftsblatts Dziennik/Gazeta Prawna, Zbigniew Parafianowicz. Geht es nach Parafianowicz, müsse man vor allem die Bemühungen der polnischen Geistlichen während der gestrigen Gedenkveranstaltung würdigen. Insbesondere die Worte von Erzbischof Gądecki, der offen über Wolhynien als Völkermord gesprochen habe. Doch die Politiker hätten sich erneut innerhalb des bereits eingefahrenen Paradigmas bewegt und keine neue Qualität in den Versöhnungsprozess gebracht. Selenskyj und Duda seien in die Fußstapfen von Aleksander Kwaśniewski und Leonid Kutschma, Lech Kaczyński und Wiktor Juschtschenko sowie Bronisław Komorowski und Petro Poroschenko getreten und hätten die erwartete Schmerzgrenze für die Ukrainer nicht überschritten. Das heißt, sie hätten nicht zugegeben, dass es sich um Völkermord handelte, und die falsche Symmetrie, die die ukrainische Seite seit Jahren in die Debatte über Wolhynien einbringt (es gab Krieg, es gab Verbrechen - auf beiden Seiten) nicht widerlegt.
Fazit: Was bisher rund um den 80. Jahrestag von Wolhynien geschehen sei, müsse natürlich gewürdigt werden. Man könne dabei jedoch nicht vorgeben, dass dies ein erwartetes, optimales, bahnbrechendes oder für Polen akzeptables Szenario ist. Es sei vor allem vorteilhaft für die Ukraine, die im Krieg stehe und sich nicht dazu bekennen könne und wolle, dass ihr Volk in der Vergangenheit Völkermordverbrechen begangen hat. Selenskyj bleibe auf nahezu perfekte Weise in der Opferrolle. Das sei verständlich. Und dafür gebühre ihm Respekt - er sei ein selbstbewusster Spieler, der konsequent die Position seines Landes verteidige. Der polnische Präsident sei in diesem Kontext auch ein Spieler. Aber weder selbstbewusst noch besonders effektiv, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik/Gazeta Prawna..
Rzeczpospolita: Getreide überflutet Polen
Zu historischen Konfliktthemen komme in den polnisch-ukrainischen Beziehungen eine aktuelle Herausforderung hinzu, die schon sehr bald erneut in landesweite Proteste eskalieren könne, warnt die Rzeczpospolita in ihrem Aufmacher. Gemeint ist die anhaltende Überflutung des polnischen Marktes mit ukrainischem Getreide. Wie aus Angaben des Landwirtschaftsministeriums hervorgehe, die dem Blatt vorliegen, sei im vergangenen Jahr knapp 170 Mal mehr Getreide aus der Ukraine nach Polen eingetroffen, als ein Jahr zuvor. Bei Mais sei der Import knapp 300 Mal größer. Und in den ersten vier Monaten dieses Jahres, also als die Landwirte bereits protestiert hätten, seien erneut Rekorde gebrochen worden.
Die Regierung habe die Landwirte besänftigt, indem sie ihnen Geld zukommen ließ. Sie habe jedoch keine systemischen Lösungen vorgeschlagen, schreibt dazu der Publizist der Zeitung, Piotr Skwirowski . Es seien weder neue Absatzmärkte für unser Getreide gesucht, noch Investitionen in die Transportinfrastruktur getätigt worden. Daher sei es mehr als sicher, dass die landwirtschaftlichen Proteste bald wieder ausbrechen werden, gerade rechtzeitig zu den Parlamentswahlen und mit noch größerer Wucht. Besonders, da Landwirte Schwierigkeiten hätten, ihre letztjährigen Ernten zu verkaufen. Aufkaufunternehmen würden ihnen sehr niedrige Preise anbieten, in der Hoffnung, dass das Importverbot für Getreide aus der Ukraine im Herbst aufgehoben wird und sie noch günstigeres Korn kaufen können.
Aber Getreide sei bei Weitem nicht das einzige Problem. Tatsächlich handle es sich nur um den Anfang der Kopfzerbrechen mit dem Zustrom von Lebensmitteln aus der Ukraine. Unser Markt werde derzeit etwa von ukrainischen Himbeeren überschwemmt. Die einheimischen Produzenten seien verzweifelt, da sich die einheimische Produktion mittlerweile nicht mehr rechne. Dazu kämen andere Obst- und Gemüsesorten, Fleisch und Milchprodukte. Die Ukraine sei ein großes Agrarland, das ganz Europa ernähren könnte. Der ukrainische Agrarsektor habe zudem den entscheidenden Vorteil wettbewerbsfähiger Preise. Wie können polnische Produzenten vor diesem Machtgefälle geschützt werden? Werde sich all dies von selbst regeln? “Nein, wird es nicht. Es kann nicht weiterhin nichts getan werden. Ad-Hoc-Geldspritzen und leere Versprechungen sind kein Programm für die Landwirtschaft”, so Piotr Skwirowski in der Rzeczpospolita.
Autor: Adam de Nisau