Deutsche Redaktion

"Hubschrauber von Lukaschenko kompromittieren die NATO"

03.08.2023 12:13
War der Hubschrauber-Vorfall an der Grenze zu Belarus nur der Auftakt zu einer ernsthafteren Provokation, die Russland den Vorwand zu einer Reaktion geben soll? Hat die Regierung korrekt auf den Zwischenfall reagiert? Und: Wer will den Warschauer Aufstand für eigene politische Zwecke missbrauchen? Die Einzelheiten in der Presseschau.
Stanisław Żaryn o naruszeniu polskiej przestrzeni powietrznej: możliwa prowokacja
Stanisław Żaryn o naruszeniu polskiej przestrzeni powietrznej: możliwa prowokacjaVasily Fedosenko / Reuters / Forum

Rzeczpospolita: Hubschrauber von Lukaschenko kompromittieren die NATO

Niemand glaubt an einen Zufall. Es bleibe nur offen, ob die Provokation Teil einer größeren Strategie oder eher auf eine momentane Laune des Diktators zurückzuführen sei, schreibt in seinem Kommentar der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota. 

Was, fährt der Autor fort, hätten ein russischer Marschflugkörper und ein belarussischer Militärhubschrauber gemeinsam? Überraschend viel. Nicht nur das Herkunftsland. Beide, so Chrabota, seien von den polnischen Sicherheitssystemen unentdeckt geblieben. Die Rakete bei Bydgoszcz sei gesehen worden, dann aber für mehrere Monate "verlorengegangen”. Lukaschenkos Hubschrauber über Białowieża seien indes von zufälligen Beobachtern und nicht von polnischen Diensten oder denen der NATO gesichtet worden. Eigentlich sollte der Eintritt fremder Einheiten in den polnischen Luftraum schnell erkannt und diese zum Kurswechsel oder zur Landung gezwungen werden. Kampfjets sollten abheben und Radaranlagen den Eindringling überwachen. Soweit die Öffentlichkeit wisse, sei jedoch nichts dergleichen passiert.

Stattdessen seien die Hubschrauber 5 km tief in polnisches Gebiet eingedrungen, seien eine Weile durch unseren Himmel gestreift und dann ungestört nach Belarus zurückgekehrt. Sei eine Tragödie geschehen? Sicherlich nicht. Außer, dass wir es im Osten mit einer vollwertigen russischen Aggression und in Belarus mit völlig unberechenbaren Wagner-Truppen und Lukaschenko zu tun hätten, der bewusst am Hybridkrieg gegen die Verbündeten der Ukraine teilnehme. Und die Kommunikation des Verteidigungsministeriums (MON) sei wieder ungenügend gewesen; zuerst sei die Information über den Vorfall dementiert und dann bestätigt worden. Ein Durcheinander? Oder gar schlimmer, ein Versuch, die Wahrheit unter den Teppich zu kehren? Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak sollte dies klären.

Lukaschenko, so Chrabota, könnte es darum gehen, die polnischen Überwachungssysteme in Grenzgebieten zu testen, die Psychose der Bedrohung zu verstärken oder einen Konflikt auf Seiten der NATO zu kreieren. Oder, die Geduld des ungeliebten Nachbarn auf die Probe zu stellen. Es gebe auch eine weitere Hypothese: dass der Hubschrauber-Zwischenfalll die Ankündigung einer Provokation ist, die die Situation an der östlichen NATO-Grenze verschärfen und Russland zur Reaktion zwingen könnte. Könnte diese in einem "zufälligen" Abschießen eines belarussischen Hubschraubers oder Flugzeugs bestehen? Ausschließen könne man dies nicht.

Die Lehren aus dem Vorfall? Erstens, der sich als Großmacht und Vermittler gebende Lukaschenko habe auf billige Weise die Schwäche der NATO bloßgestellt. Denn was für eine militärische Allianz sei das, wenn fremde Militärhubschrauber ruhig durch ihren Luftraum streifen können. Zweitens hätten wir einen Beweis dafür, in welche Art von Waffen wir investieren müssen. Es handle sich um Überwachungs- und Verteidigungssysteme für den polnischen Luftraum. Drittens, es bedürfe mehr Interaktion und Zusammenarbeit mit der NATO, auch durch die Verlagerung von NATO-Ausrüstung an Polens Ostgrenze. Denn auf kurze Distanz würden die hiesigen  Verteidigungsressourcen nicht ausreichen, unsere Verbündeten müssten uns aufrüsten. “Schluss mit der Prahlerei. Respektieren Sie die internationalen NATO-Partner voll und ganz, selbst wenn es die Bundeswehr ist”, appelliert Chrabota. Aber könne die PiS das? Sie würde sich doch ständig von den Knien erheben. Warum sollte es nach dem Vorfall über Białowieża anders sein?, fragt der Publizist in der Rzeczpospolita.

Gazeta Polska Codziennie: Opposition nutzt Lukaschenkos Provokation für Angriff auf die Regierung

Die gezielte Provokation des belarussischen Militärs diene der Opposition jetzt als Munition für Angriffe auf die Regierung und Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak, lesen wir indes in der nationalkonservativen Gazeta Polska Codziennie. "Je näher die Wahlen rücken, desto mehr solcher Provokationen können wir erwarten. Man muss ruhig, aber bestimmt darauf reagieren. Eines ist sicher, die Bedrohung - trotz der Bagatellisierung der Angelegenheit durch die Opposition und Donald Tusk - ist real", sagt im Gespräch mit dem Blatt der Vorsitzende des Sejm-Ausschusses für Sicherheitsdienste, Waldemar Andzel. Und verteidigt eine ruhige und professionelle Reaktion Polens auf den Vorfall. “Wir müssen die belarussischen Diplomaten um Erklärungen bitten und wenn sich solche Situationen wiederholen, sollten wir diese Argumente nutzen, um unsere Raketenabwehr und andere Abschreckungsmöglichkeiten durch unsere Verbündeten zu stärken", so der Politiker. Es sei nicht notwendig, in diesem Fall Emotionen zu schüren, denn das sei genau das, was Russland wolle.

Stattdessen, so die Zeitung, werde die belarussische Provokation von den Politikern der “totalen Opposition” ausgenutzt, um den Rücktritt von Mariusz Błaszczak fordern. "Błaszczak wusste es, hat aber nichts gesagt. Die PiS bietet uns Lügen statt Sicherheit an. Die Verheimlichung von Informationen über belarussische Hubschrauber in Polen ist ein weiterer Grund für den Rücktritt", habe gestern etwa Szymon Hołownia von Polska 2050 gegiftet.

"Es gibt keine Systeme auf der Welt, die das gesamte Territorium eines Landes vollständig schützen können. Wir bauen schrittweise Raketenabwehrsysteme auf, mussten aber auch Verzögerungen aufholen, die aus den Regierungen unserer Vorgänger resultierten", kontert Waldemar Andzel im Gespräch mit der Gazeta Polska Codziennie.

Gazeta Wyborcza: Nationalisten vereinnahmen Warschauer Aufstand

Auch der 79. Jahrestag des Warschauer Aufstands sorgt für Streit zwischen Konservativen und Liberalen, die sich gegenseitig vorwerfen, das Jubiläum vereinnahmen und für den politischen Kampf missbrauchen zu wollen. Mit jedem Jahr beobachte er die Jahrestage mit wachsender Trauer, schreibt dazu der Publizist der linksliberalen Gazeta Wyborcza, Tomasz Urzykowski. Die letzten Helden und Heldinnen der Erhebung würden von uns scheiden, was am 1. August um 17 Uhr auf dem Militärfriedhof Powązki besonders stark zu spüren sei. 

Noch vor zehn Jahren, so der Publizist, seien die Veteranen und Veteraninnen des Aufstands von 1944 die wichtigsten Teilnehmer der dort organisierten Feierlichkeiten gewesen. Als die Sirenen erklungen seien, hätten sie sich um das Denkmal Gloria Victis versammelt und das Monument mit einem Meer von grauen Köpfen umgeben.

Zum 79. Jahrestag der Stunde “W” habe es auf dem Militärfriedhof Powązki jedoch fast keine Aufständischen mehr gegeben. Nur einige, vielleicht ein Dutzend Menschen, die im August und September 1944 an den Kämpfen um Warschau teilgenommen hätten, hätten es zur Zeremonie geschafft. An ihre Stelle am Denkmal seien von Jahr zu Jahr immer mehr Politiker und ihre Leibwächter getreten.

Immer weniger Aufständische könnten den neuen Generationen damit über die Werte erzählen, für die sie gekämpft und für die sie vor 79 Jahren gestorben seien. Sie würden nicht mehr darauf hinweisen, dass es unpassend sei, einem Kind ein Aufständischen-Armband anzulegen oder das Zeichen des kämpfenden Polens auf ein Auto zu kleben. Oder vor der Teilnahme am sogenannten Marsch des Warschauer Aufstands warnen, der von dem Nationalisten Robert Bąkiewicz und seiner “Rota Niepodległości” organisiert werde. Diese seit über 10 Jahren am 1. August um 17 Uhr im Zentrum von Warschau stattfindende Kundgebung der Nationalisten mit gezündeten Leuchtspuren und Parolen über die weiße Rasse, erinnert Urzykowski, habe in diesem Jahr den Status eines zyklischen Ereignisses erlangt, das Vorrang vor anderen Versammlungen habe. Entgegen des Widerstands von Seiten der Warschauer Stadtbehörden habe Bąkiewicz, der 2021 die Rede der Heldin des Aufstands, Wanda Traczyk-Stawska alias "Pączek", auf einer Oppositionskundgebung auf dem Schlossplatz übertönt habe, dieses besondere Privileg als Geschenk vom Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro erhalten.

Damit sei der Marsch des Warschauer Aufstands zur wichtigsten Veranstaltung in diesem besonderen Moment herangewachsen. Verwirrte Menschen, die gedacht hätten, dass die Kundgebung Teil der vom Stadtrat organisierten Gedenkfeiern sei, hätten sich der Veranstaltung extremer Gruppen angeschlossen. Der Chef der “Rota Niepodległości” habe an diesem Tag auch als Kommentator im TV-Programm Republika geglänzt, das vom Warschauer Aufstandsmuseum ausgestrahlt worden sei. Er werde eine beängstigende Vision nicht los, so der Autor: Nämlich, dass, wenn es keine Aufständischen mehr gebe, Bąkiewicz in ihrem Namen auftreten und die Gedenkfeiern mit seinem Gesicht und seiner Eloquenz prägen werde. Sollte diese Vorstellung wahr werden, wäre es besser, die Gedenkfeiern ganz abzusagen, so Tomasz Urzykowski in der Gazeta Wyborcza.

Gazeta Polska Codziennie: Opposition instrumentalisiert Gedenkfeierlichkeiten für politischen Kampf

Ein ganz anderes Bild der Feierlichkeiten zeichnet erwartungsgemäß die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie. Für die Warschauer, so die Zeitung, sei der 1. August heilig, was an dem großen Interesse an den Gedenkfeierlichkeiten sowie am Marsch des Warschauer Aufstands zu sehen gewesen sei. Abends seien Menschenmassen auf den Piłsudski-Platz geströmt, um gemeinsam in familiärer Atmosphäre Aufstandslieder zu singen. Wäre da nur nicht die Opposition, die beschlossen habe, die feierliche Zeit für den aktuellen politischen Kampf zu missbrauchen. Oppositionelle Medien, die schon in der Vergangenheit oft skandalöse Materialien über den Warschauer Aufstand veröffentlicht hätten, einschließlich von Anschuldigungen gegen die Aufständischen wegen der Ermordung von Juden oder der Behauptung, dass die Polen während des Aufstands von 1944 für die Rechte sexueller Minderheiten gekämpft haben, hätten beschlossen, ihre Taktik in diesem Jahr zu ändern und die Aufständischen in Kommentare zur tagesaktuellen Politik zu verstricken. Ob das heutige Polen das sei, wovon sie träumten, als sie gegen die Deutschen kämpften, seien viele Aufstandsteilnehmer gefragt worden. Zum Glück hätten einige das Spiel durchschaut, wie etwa Bogdan Bartnikowski alias Mały, der zur Zeit des Aufstands ein Bote gewesen sei, der auf eine der ähnlichen Fragen einer TVN24-Reporterin geantwortet habe: "Das Polen, das wir heute haben, ist frei und unabhängig und wir haben immer von einem solchen Polen geträumt". 

Zudem, fährt das Blatt fort, sei auch einer der Organisatoren des Marsches des Warschauer Aufstands, Robert Bąkiewicz, medial angegriffen worden. Der Höhepunkt sei jedoch der Auftritt der ehemaligen Aufständischen Wanda Traczyk-Stawska gewesen, die unter anderem erklärt habe, dass "wir derzeit in der EU sind, obwohl sie uns herausführen wollten". "Ich gehe bald, die meisten meiner Kollegen sind gegangen, nur wenige von uns sind übriggeblieben. Und bitte, denken Sie an die Verfassung. Es ist auch an der Zeit, diese Regierung komplett zu ändern, die sich nicht daran erinnert, dass die Position der Frauen in dieser Verfassung verankert haben", zitiert das Blatt die Zeitzeugin. Frau Traczyk-Stawska habe auch argumentiert, dass sowohl Deutschland als auch die EU uns heute im Falle eines Angriffs vor Russland verteidigen würden.

Der Historiker und Publizist, Tadeusz Płużański bezeichnet das Verhalten der oppositionsnahen Medien im Gespräch mit dem Blatt als verwerflich. "Seit Jahrzehnten gibt es Gruppen, die den Warschauer Aufstand einerseits kritisieren und andererseits dieses Thema für ihre eigenen Zwecke nutzen. Die Methoden ändern sich. Sie waren anders in der Zeit der Volksrepublik Polen, anders in den frühen 90er Jahren, als Michnik und Cichy in ihrem berühmten Artikel behaupteten, dass der Aufstand ausbrach, damit die Aufständischen Juden ermorden konnten, und sie sind heute anders. Noch vor kurzem behaupteten bestimmte Gruppen oder Medien, dass der Aufstand auch ein Kampf um die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen war. All das ist natürlich Unsinn. In diesem Jahr haben die gleichen Gruppen beschlossen, ihre Taktik zu ändern und die Situation so zu gestalten, dass sie die PiS treffen können, indem sie den Jahrestag des Ausbruchs des Aufstands nutzen. Das Ausnutzen der Idee des Warschauer Aufstands für den aktuellen politischen Kampf ist verwerflich", so Tadeusz Płużański gegenüber Gazeta Polska Codziennie. 

Autor: Adam de Nisau