Deutsche Redaktion

"Nach dem Abitur gingen wir in den Ruhestand"

15.09.2023 11:58
Die Flüchtlingsthematik, und die damit verbundene Demographieproblematik, ist heute ein führendes Thema der Pressekommentare. Die linksliberale Gazeta Wyborcza erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung in der Visa-Affäre. Und auch der Streit zwischen liberalen und konservativen um den Film "Grüne Grenze" von Agnieszka Holland findet in den heutigen Analysen eine Fortsetzung.
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Zdjęcie ilustracyjne vivooo/shutterstock

Rzeczpospolita: Nach dem Abitur gingen wir in den Ruhestand

Die Einführung von Renten nach einer bestimmten Anzahl von Arbeitsjahren scheint nur auf den ersten Blick logisch und vorteilhaft. Angesichts unserer demografischen Situation ist dieser Trend absurd und äußerst schädlich, schreibt in seinem Kommentar für die Rzeczpospolita der Publizist Krzysztof Adam Kowalczyk.

Auch in dieser Wahl, so der Autor, nutze die PiS die Angst vor dem Jobverlust am Ende der beruflichen Laufbahn aus. Diesmal locke sie mit Renten nach 38 Jahren Beitragszahlungen an die ZUS für Frauen und nach 43 Jahren für Männer. Die mit der Regierungspartei verbündete Gewerkschaft Solidarność, erinnert Kowalczyk, habe seit Jahren dafür gekämpft, aber PiS habe sich erst jetzt, in der hektischen Suche nach jedem Prozent Unterstützung, entschieden, darauf zurückzugreifen. Früher habe sie, denn diese Art von Renten seien nur scheinbar logisch und vorteilhaft. Sie würden insbesondere dazu führen, dass die Begünstigten, insbesondere Frauen, niedrigere Leistungen erhalten, und das Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt verstärken, auf dem gerade eine riesige demografische Gruppe aus den 1950er Jahren ausscheide und weniger Menschen nachrücken würden. Jährlich, lesen wir, würden 150.000 Menschen den Arbeitsmarkt verlassen, obwohl bereits 5% der Arbeitnehmer weiterarbeiten würden. Vor allem werde diese Lücke durch massive wirtschaftliche Migration aus immer entfernteren Ländern gefüllt, die von der gleichen Partei nach Polen gelassen werden, die offiziell gegen Einwanderer hetze.

Als jemand, der über fünfzig ist, so Kowalczyk, würde er gerne bis zum Alter von siebzig arbeiten. Natürlich sei er sich bewusst, dass mit den Jahren die Energie nachlässt. Daher sollte man vielleicht anstatt die Menschen mit einer früheren Rente zu locken, gemeinsam mit den Arbeitgebern allgemein akzeptierte Modelle zur Verkürzung der Arbeitswoche für Senioren entwickeln, zum Beispiel nach dem 60. Lebensjahr für Frauen und 65. für Männer.

Er frage sich, ob es Grenzen für das Ausnutzen der Ängste der Arbeitnehmer gebe und der Taktik, ihnen immer früher und niedrigere Renten anzubieten, anstatt zum Beispiel eine effiziente Gesundheitsversorgung zu gewährleisten? “Ich sage provokant: Liebe Politiker, beschränken Sie sich nicht auf Renten nach Arbeitsjahren. Kämpfen Sie für die junge Generation und gewähren Sie ihnen eine Rente gleich nach dem Abitur. Das könnte Ihre echte Wahlwunderwaffe sein. Nach acht Jahren Grundschule und vier Jahren Oberschule ist auch ein junger Mensch müde und würde ein solches Geschenk des Staates schätzen. Sie könnten sagen, das ist dumm und irrational? Klar, aber es ist nur eine Fortsetzung des in unserer demografischen Situation absurd gewordenen Trends”, so Krzysztof Adam Kowalczyk in der Rzeczpospolita.


Gazeta Wyborcza: Die Regierung und die Dienste wussten Bescheid

Die linksliberale Gazeta Wyborcza wirft den Diensten und der Regierung vor, von den Missständen und dem Visa-Handel, der zur Demission von Vize-Außenminister Piotr Wawrzyk geführt hatten, seit langem gewusst zu haben und nicht entschieden dagegen vorgegangen zu sein. Über die Probleme, lesen wir, hätten nicht nur Unternehmerorganisationen wie die Konföderation Lewiatan oder das Büro des Sprechers für kleine und mittelständische Unternehmen, sondern auch das Landwirtschaftsministerium informiert. Dessen damaliger Chef, Vizepremier Henryk Kowalczyk, habe auf Probleme bei der Erlangung von Visa für Ausländer hin, die im landwirtschaftlichen Sektor arbeiten wollten hingewiesen. Um diese Barrieren abzubauen, hätten bereits am 1. Januar und 29. März 2023 Gespräche zwischen dem Außenministerium, dem Landwirtschaftsministerium und dem Innenministerium stattgefunden, geleitet von Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik, den Koordinatoren der Spezialdienste. Es bleibe nur zu hoffen, dass sich die Polen bewusst sind, dass wir die Kontrolle über unsere östliche Grenze verlieren, wenn die Behörden ihre eigenen Interessen und die ihrer Verbündeten verfolgen, und nicht die Sicherheit des Landes und der Bürger.

Gazeta Wyborcza: "Die "Grüne Grenze" wird nicht in der Schublade landen

Ebenfalls in der Gazeta Wyborcza, berichtet Publizist Tomasz Jakubowski über einen mutmaßlichen Versuch, den umstrittenen Film von Agnieszka Holland zur Migrationskrise zu zensieren. In der Vorstadt von Warschau, Otwock, lesen wir, seien die Vorführungen des Films "Grüne Grenze" von Holland kürzlich abgesagt worden. Wie der Autor erinnert, würden Politiker der PiS behaupten, dass der Film, der die dramatischen Ereignisse an der polnisch-weißrussischen Grenze darstellt, die "polnische Uniform beleidigt". Obwohl offiziell angegeben worden sei, dass das Kinoprogramm aufgrund geplanter Theaterproben geändert wurde, hätten lokale Politiker keine Zweifel an den wahren Gründen. Ein Stadtrat habe direkt zu verstehen gegeben, dass die Entscheidung vom zur Regierungspartei gehörenden Stadtpäsidenten getroffen wurde. Es bestehe jedoch keine Grund zur Sorge, denn der in Venedig ausgezeichnete Film werde nicht in Vergessenheit geraten oder nur im Untergrund gezeigt werden. “Wir leben im 21. Jahrhundert und fast jeder hat Zugang zum Internet, wo der Film, wenn nicht in den freien Medien, sicherlich online oder auf Streaming-Kanälen erscheinen wird. Der Versuch der Zensur wird daher wahrscheinlich scheitern. Die PiS habe eine solche Macht, um Filme, wie zu kommunistischen Zeiten zu zensieren, nicht. Wenigsten noch nicht, so Tomasz Jakubowski in der Gazeta Wyborcza.


Gazeta Polska Codziennie: “Grüne Grenze” übertritt alle Grenzen

Auch die heutige Ausgabe der regierungsnahen Gazeta Polska Codziennie ist vor allem der Flüchtlingsthematik gewidmet. Auf der Titelseite ("Merkels und Tusks Politik zerstört Europa - Illegale Migranten stürmen den Süden Italiens) berichtet das Blatt von der Situation auf Lampedusa, auf der innerhalb von 36 Stunden über 7000 illegale Migranten aus Afrika die Küste erreicht haben, was zu heftigen Unruhen und Auseinandersetzungen mit der Polizei führte. Die Situation sei so sehr eskaliert, dass die lokalen Behörden den Notstand ausrufen mussten. Zu einem kritischen Zeitpunkt habe es mehr illegale Migranten auf Lampedusa gegeben als Einwohner, so das Blatt. Außerdem veröffentlicht die Zeitung auch eine kritische Rezension des besagten Films “Grüne Grenze” von Agnieszka Holland. Darin argumentiert die Rezensentin, Sylwia Krasnodębska, dass der Film eine verzerrte, von Hass geprägte Darstellung von Polen präsentiert und die Regisseurin Holland eine tendenziöse und klischeehafte Sichtweise anbietet, die das Publikum eher belustigt als zum Nachdenken anregt.

Das Lob der europäischen Kritiker, so die Autorin, sei überraschend. Genauso wie das Urteil in Venedig. Die Aufteilung des Films in Kapitel unterbreche den Erzählfluss. Es fehle an Kohärenz. Die Spannung entgleise wie ein Auto auf einem schlammigen Waldweg. Die Witze scheinen unangebracht und zufällig platziert. Der Spaziergang von Maja Ostaszewska durch das Moor von Kampinos (wo diese Szene gedreht wurde) könne die Dramaturgie des Films nicht tragen. Es sei schwer zu glauben, dass die Jury in Venedig etwas mehr als Hollands Ansichten schätzte.

In einer der Szenen, lesen wir, halte eine Polizeipatrouille die Aktivistin Julia (Maja Ostaszewska) an, offenbar mit der Absicht, ihre Herkunft zu überprüfen und fordert sie auf, etwas auf Polnisch zu sagen. Sie und andere Aktivisten beginnen verächtlich und spöttisch, das Gebet "Vater unser" zu rezitieren. Es scheine auch kein Zufall zu sein, dass über dem Kopf des Polizisten, der Julia auf der Polizeiwache misshandelt, ein Kreuz hängt. Wie man sieht, befindet sich bei Holland jeder in einer Art Krieg. Und sie selbst sei zumindest in zwei Kriege verwickelt - einem gegen Polen und einem religiösen Krieg, so Sylwia Krasnodębska in Gazeta Polska Codziennie.

Autor: Adam de Nisau