Deutsche Redaktion

Visa-Affäre: "Zweifellos eine Affäre" vs. "Heuchelei live"

18.09.2023 13:48
Die Visa-Affäre ist eines der wichtigsten Themen der heutigen Pressekommentare. Während die oppositionsnahen Medien von einem klaren Fall von Korruption auf höchster Staatsebene sprechen, startet die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie einen Frontalangriff auf Senatsmarschall Grodzki, dem sie vorwirft, seinerseits in Korruption verwickelt zu sein und gräbt Ungereimtheiten im Visa-Verfahren aus Zeiten der Vorgängerregierung aus. Und da ist noch die Frage: Auch wenn die Affäre eine Affäre iist - wird sie dem Regierungslager schaden? Die Einzelheiten in der Presseschau.
Żaryn: nikt nie otrzymałby wizy do Polski w trybie, o którym pisze Onet
Żaryn: nikt nie otrzymałby wizy do Polski w trybie, o którym pisze Onetgov.pl; Twitter.com

Rzeczpospolita: Jeder Fünfte hat von Visa-Affäre nicht gehört 

Wird der Visa-Skandal die Chancen des Regierungslagers auf eine weitere Amtszeit schmälern? Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRiS würden über 30 Prozent der Befragten dieser Meinung sein, schreibt die konservativ-liberale Rzeczpospolita auf ihrer Titelseite. Ein größerer Anteil der Befragten (39,7 Prozent) sei jedoch der Meinung, dass dieser Vorfall keinen Einfluss auf das Wahlergebnis der PiS haben werde. Insbesondere Oppositionswähler (46 Prozent), Konföderationsanhänger (37 Prozent) und auch 20 Prozent der PiS-Wähler seien überzeugt, dass der Skandal die Zustimmung für die PiS beeinflussen wird. Ganze 21,4 Prozent der Befragten hätten indes nichts von der sogenannten Visa-Affäre gehört. Wie das Blatt erinnert, sei der mutmaßliche Schlüsselvermittler bei der Visa-Erteilung laut Staatsanwaltschaft der 25-jährige Edgar K. gewesen, ein Mitarbeiter des stellvertretenden Außenministers Piotr Wawrzyk, der infolge der Affäre seinen Posten räumen musste. Die Bestechungsgelder seien offenbar von einem indischen Geschäftsmann aus Warschau, Saikat B., übergeben worden. Wie die Ermittler betonen, sei die Aufklärung des Falls noch in vollem Gange, so Rzeczpospolita.

Rzeczpospolita: Wird die Affäre der PiS schaden?

In der Affäre um Visa gebe es einige offensichtliche Wahrheiten, schreibt in seinem Kommentar zur Umfrage der Chefredakteur der Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota. Zunächst einmal sei es eine Affäre, auch wenn PiS-Chef Jarosław Kaczyński darauf bestehe, dass es nicht einmal ein "Affärchen" ist. Es sei ein Skandal, da er zeige, dass es an den Spitzen der Regierung recht einfach scheint, ein korruptes System zu schaffen, und dass die Standards und die Kontrolle in den Ministerien degradiert sind. Es sei auch hundertfach ein Skandal, weil er die Heuchelei der Herrschenden entlarve. Obwohl die populistische Regierung alles tue, um Migranten aus Asien für parteipolitische Zwecke zu verunglimpfen, werde sie tatsächlich zum Führer in ihrem Transfer in die Europäische Union. Wo sei da die Konsequenz? Nirgendwo, da es der populistischen Regierung nicht um Fakten gehe, sondern nur um die Wahlbotschaft und die Macht. Ganz nebenbei - genau deshalb würden populistische Regierungen freie Medien nicht mögen, weil sie diese Botschaft stören und keine Garantie für ihre Wirksamkeit bieten.

So viel zu den "offensichtlichen Wahrheiten" über die Visa-Affäre. Ob die Affäre die Wahlergebnisse beeinflussen werde, bleibe bei alledem jedoch, wie die neueste Umfrage zeige, offen. Der Grund: Erstens sei die Angelegenheit noch zu frisch, um Haltungen formen zu können. Zweitens werde die Angelegenheit in den loyalen öffentlichen Medien entweder heruntergespielt oder existiere nicht. Drittens habe die Opposition keine passende Sprache gefunden, um zu zeigen, dass es sich nicht um ein individuelles Beispiel für Korruption handele, sondern um einen Beweis für systematische Pathologie. Bisher, erinnert Chrabota, hätten die Gegner der Regierungspartei Fremdenfeindlichkeit vorgeworfen; die Tatsache, dass Polen führend in der Übertragung von Arbeitskräften aus Asien gewesen sei, könne also eigentlich nicht so schlecht sein. Außerdem bleibe offen, ob die Amerikaner, zu denen der neue "Wawrzyk-Weg" für den Transfer von Menschen aus Asien führte, sich melden. Er antworte - wahrscheinlich nicht. Die US-Regierung habe weder ein Interesse noch eine Tradition, sich in demokratische Wahlen in einem Land wie Polen einzumischen. Es sei denn, dank Minister Wawrzyk würde ein weiterer Bin Laden in die USA gelangen. Dann gäbe es Alarm. Aber das sei bei den sich als Filmemacher ausgebenden Bauern aus Gujarat kaum zu erwarten, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita.

Gazeta Wyborcza: Schlüsselpersonen der Affäre gut in der Regierung vernetzt 

Die linksliberale Gazeta Wyborcza, die als eine der ersten über das Prozedere berichtete, stellt im heutigen Aufmacher die These auf, dass die Schlüsselpersonen der Affäre gut in Regierungskreisen vernetzt gewesen seien. Der im Fall angeklagte Edgar K. sei unter anderem von Kulturminister Piotr Gliński auf wichtige Posten berufen worden. Die Informanten des Blattes, so lesen wir, würden Edgar K. direkt mit Minister Gliński in Verbindung bringen und ihn als "seinen Mann" bezeichnen. "Und es war Vizepremier Piotr Gliński, der darauf drängte, Visa für die 'Filmemacher' auszustellen, und der gerne betont, dass er regiert und eine wichtige Persönlichkeit ist. Wawrzyk wollte Gliński einen Gefallen tun", zitieren die Informanten des Blattes.

„Minister Piotr Gliński kennt Herrn Edgar K. nicht und arbeitet nicht mit ihm zusammen“, würde es indes in der Antwort auf die Fragen heißen, die die Redaktion an das Kulturministerium geschickt hatte, so Gazeta Wyborcza.


Gazeta Polska Codziennie: Heuchelei live

Die regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie macht die heutige Ausgabe unter dem Titel “Heuchelei live” mit einem Angriff auf Senatsmarschall Tomasz Grodzki auf, der die Visa-Affäre am Freitag in einer Fernsehansprache angeprangert hatte. Und zitiert dazu Justizminister Zbigniew Ziobro, der den Oppositionspolitiker nach der Ansprache erneut beschuldigt hatte, selbst in Korruption verwickelt zu sein: "Herr Marschall Grodzki hat Bestechungsgelder angenommen, er hat sie ordinär angenommen und erpresst, wie aus den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft hervorgeht, von armen kranken Patienten", so Ziobro nach der Ansprache von Grodzki. Dies, kommentiert die Zeitung, sei die kürzeste Zusammenfassung der Untersuchung bezüglich der Korruption im Krankenhaus Szczecin-Zdunowo, das von Tomasz Grodzki geleitet werde. Die Ermittler hätten festgestellt, dass nicht nur Marschall Grodzki materielle Vorteile angenommen hat. Seine Untergebenen, die nicht durch Immunität geschützt seien, hätten bereits die schwersten Vorwürfe gehört: Korruption, Geldwäsche und Tätigkeit in einer organisierten kriminellen Gruppe, die unter dem Deckmantel einer Stiftung agiert habe, deren Gründer Tomasz Grodzki war, so Gazeta Polska Codziennie. 

Gazeta Polska Codziennie: Unregelmäßigkeiten bei der Visaerteilung von 2007 bis 2015 wurden unter den Teppich gekehrt 

In einem weiteren Artikel legt die Gazeta Polska Codziennie noch einmal nach und wirft der heutigen Opposition vor, selbst Unregelmäßigkeiten bei der Visaerteilung in den Jahren 2007 bis 2015 unter den Teppich gekehrt zu haben. Das Blatt, so lesen wir, habe darüber bereits 2012 berichtet, die Unregelmäßigkeiten seien aber damals von der Justiz nicht ernsthaft verfolgt worden. „Systematische Unregelmäßigkeiten im Visavergabeprozess gab es während der PO-Regierung, im Gegensatz zur jetzigen Regierung der Vereinigten Rechten, wurden sie damals jedoch unter den Teppich gekehrt“, sagt im Interview mit dem Blatt der PiS-Abgeordnete Radosław Fogiel. Das Blatt erinnert im weiteren Verlauf des Artikels an alle Maßnahmen, die die Regierung in Bezug auf den Skandal ergriffen hat: sieben Personen seien angeklagt worden, drei würden sich in Untersuchungshaft befinden. Außenminister Zbigniew Rau habe eine Prüfung in der konsularischen Abteilung des Außenministeriums und in allen konsularischen Einrichtungen der Republik Polen angeordnet, sowie die Verträge mit allen Outsourcing-Unternehmen gekündigt, die seit 2011 mit der Bearbeitung von Visaanträgen beauftragt waren. „Um von dem echten Problem, der Invasion illegaler Migranten nach Europa, abzulenken, entfesseln die Opposition und die mit ihr befreundeten Medienzentren eine Lügen- und Hassmaschine gegen die Regierung. Es ist beschämend, dass sich in dieser Angelegenheit öffentlich eine Person äußert, die selbst ernsthafte rechtliche Probleme hat“, habe in einer Fernsehansprache Sejmarschallin Elżbieta Witek betont und dabei auf die Vorwürfe gegen Senatsmarschall Tomasz Grodzki angespielt, der sich hinter der Immunität vor den Vorwürfen im Zusammenhang mit dem "Umschlag-Skandal" verstecke.

„Die von der Opposition angewandte Soziotechnik besteht darin, aus einem kleinen Vorfall, der sorgfältig untersucht wird, einen riesigen Aufruhr zu machen, unter Verwendung von Lügen und Manipulationen“, bewertet Fogiel.


Autor: Adam de Nisau