Deutsche Redaktion

"Der Einsatz sind Europa, Freiheit und Demokratie"

13.10.2023 09:40
Am letzten Tag vor der Wahlstille, widmen die Tageszeitungen ihre Aufmacher Stellungnahmen der Redaktionen dazu, worum es bei den Wahlen geht und welche Werte aus ihrer Sicht dabei auf dem Spiel stehen.
Die Wahlen in Polen finden am 15. Oktober statt.
Die Wahlen in Polen finden am 15. Oktober statt.Dziurek / Shutterstock

Am letzten Tag vor der Wahlstille, widmen die Tageszeitungen ihre heutige Aufmacher Stellungnahmen der Redaktionen dazu, worum es bei den Wahlen geht und welche Werte aus ihrer Sicht dabei auf dem Spiel stehen.

Rzeczpospolita: Der Einsatz sind Europa, Freiheit und Demokratie

Wir glauben an die Kraft dessen, was für die Polen heilig ist - an die Kraft der Freiheit, schreibt in seiner Stellungnahme der Chefredakteur der konservativ-liberalen Rzeczpospolita, Bogusław Chrabota. Die Redaktion der Rzeczpospolita, so der Publizist, glaube an die Gleichheit vor dem Gesetz, die Unbestreitbarkeit der Wahrheit und die Macht der Demokratie. Sie setze das öffentliche Interesse vor das parteipolitische. Auf Respekt für die Mitmenschen, unabhängig von seiner Hautfarbe oder Religion. Wir, so Chrabota weiter, unterstützen den freien Markt und Privateigentum ebenso stark wie das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. “Wir wünschen uns ein europäisches, modernes, freundliches Polen, das sich der Welt öffnet. Wir verabscheuen Vetternwirtschaft, Opportunismus und Nepotismus. Wir unterstützen die Säkularität des Staates ebenso wie das menschliche Recht auf Glauben und Religionsfreiheit”, betont der Publizist. 

Die Rzeczpospolita fordere faire und ehrliche Wahlen, frei von politischer oder medialer Manipulation. Ob die Wahlen am 15. Oktober diesen Standard erfüllen? Daran habe die Redaktion ernsthafte Zweifel. Die meisten Redakteure seien überzeugt, dass diese Wahlen von besonderer Bedeutung sind. Sie würden nicht nur über das arithmetische Ergebnis entscheiden, sondern auch über die Zukunft Polens als eines Landes der liberalen Demokratie, eines Systems, das in den letzten drei Jahrzehnten Garant für den polnischen Erfolg gewesen sei.

Die demokratische Opposition, so Chrabota, unterstütze und verteidige dieses System. Es sei nicht wahr, dass sie in der Vergangenheit keine Fehler gemacht habe, aber sie werde durch den Respekt für Prinzipien wie Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und Medienfreiheit vereint. In all diesen Fragen habe die Regierungspartei deutliche Missbräuche begangen.

Während die Opposition argumentiert, dass die Wahlen über die Zukunft der polnischen Demokratie entscheiden, behaupten die Spitzen der Recht und Gerechtigkeit, es gehe um eine grundlegendere Frage, nämlich die Souveränität. Die Redaktion von „Rzeczpospolita“ sei der Ansicht, dass beide Fragen wichtig sind. “Aber”, so Chrabota, “wir können nur innerhalb der Europäischen Union für die Existenz eines souveränen, unabhängigen Staates kämpfen, indem wir eine partnerschaftliche Politik betreiben, Allianzen bilden und europäische Mittel und Fonds nutzen.”

Unabhängig vom Ausgang dieser Wahlen werde eine der wichtigsten Herausforderungen für zukünftige Regierungen die Verbesserung der Beziehungen zu Brüssel und die Rückkehr zur Finanzierung der polnischen Transformationen aus den uns zustehenden europäischen Mitteln sein. Die Rzeczpospolita sei der Ansicht, dass ein Sieg der PiS für Polen eher ein Risiko als eine Chance ist. Ein Sieg könnte dieser Partei das Gefühl geben, dass sie noch mehr tun könne, dass ein dreifaches Mandat vom Souverän eine Lizenz für weitere verfassungsrechtliche Änderungen ist, die ohne Änderung der Verfassung vorgenommen werden.

“Wir”, so der Autor, “hoffen, dass dies nicht geschehen wird. Denn Demokratie bedeutet für die Gewinner auch die Verpflichtung, die Ansichten der Besiegten zu respektieren.” Die Redaktion werde jede Wahl respektieren, vorausgesetzt, die Abstimmung erfolge ohne Verstöße. Möge der Wille der Mehrheit entscheiden. “Wir hoffen, dass es die Wahl eines freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Polens ist, das ein glaubwürdiges und respektiertes Mitglied der heimischen Gemeinschaften - der Europäischen Union und der NATO - ist. Ein Polen, von dem wir täglich träumen und über das wir in „Rzeczpospolita“ schreiben”, so Bogusław Chrabota in der Rzeczpospolita.

Gazeta Wyborcza: Es ist Zeit für ein glückliches Polen

Zur Zeit der Sowjetunion verteilte ein Mutiger auf dem Roten Platz Flugblätter, schreibt in ihrem heutigen Aufmacher Gazeta Wyborcza. Als die Miliz ihn erwischt habe, seien die Beamten überrascht gewesen, dass die Blätter unbedruckt gewesen seien. "Was soll man schreiben, alles ist bekannt", habe der Dissident entgegnet. Heute, so die Zeitung, sei auch alles bekannt, aber man müsse auch schreiben. Dafür sei die "Gazeta Wyborcza" vor den ersten teilweise freien Wahlen im Jahr 1989 gegründet worden. Aber die Wahlen von 2023 seien ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger. "Wyborcza" werde nicht schweigen.

Vor acht Jahren, vor den Parlamentswahlen, lesen wir, habe die Zeitung trotz Spott und Beschwörungen, die PiS nicht zu fürchten, illusionslos geschrieben, dass "der Einsatz dieser Wahlen die Demokratie selbst ist". Die Redaktion habe gewarnt, dass die PiS die Gewaltenteilung untergraben, demokratische Institutionen übernehmen, das gesellschaftliche Leben verwüsten und eine Demokratur einführen werde. Die Warnungen seien vergebens gewesen, abgesehen vom schwachen Trost, recht gehabt zu haben. Die Demokraten hätten 2015 und 2019 verloren. Wenn sie jetzt, im Jahr 2023, verlieren, warnt das Blatt, erwarte uns ein reiner Autoritarismus im Stil Russlands, der Türkei und Ungarns. Es werde keine freien Wahlen mehr geben. Es würden ihr Staat, ihre Gerichte, ihre Hetze, ihre politische Polizei, ihre Pegasuse, ihre Teleskopschlagstöcke, ihre Sterbehäuser für Frauen, ihre faschistischen Milizen, ihre "Kultur", Schule, staatliche Religion sein...

Das sei der Einsatz nach acht Jahren der Zerstörung. Und entsprechend hoch sei auch die Moblisierung der Wähler. Über 600.000 Menschen hätten sich bereits im Ausland registriert. Über 1,2 Millionen Menschen hätten Bescheinigungen zum Wählen außerhalb ihres Wohnortes heruntergeladen. Menschenmengen würden zu den Treffen der Oppositionskandidaten kommen. Die Bürgerwahlkontrolle sei aktiv. Man spüre Optimismus. Wir haben genug!

Im weiteren Verlauf des Artikels appelliert die Zeitung, für den Sejm demokratische Kandidaten zu Wäheln und für den Senat Kandidaten des Senatspakts. Nur diese Wahlen seien wichtig. Das Referendum sei ein Alibi für die Wahlbetrügereien der Regierung, für die unehrliche Finanzierung ihrer Kampagne, eine Möglichkeit, die PiS-Wählerschaft durch Angst zu mobilisieren und die Demokraten zu demobilisieren. Daher ruft das Blatt dazu auf, keine Referendumskarten zu nehmen, um die Frequenz beim Referendum nicht anzuheben und den Wahlkommissionen, insbesondere im Ausland, keine zusätzliche Arbeit aufzubürden. 

Wir, so die Zeitung, spielen auf einem schiefen Feld. Die staatlichen Medien würden gegen die Opposition hetzen. Staatsunternehmen, Militär, Polizei und Beamte würden die PiS-Kampagne unterstützen. Das Wahlrecht sei zugunsten der Regierenden geändert worden, so dass die Demokraten deutlich mehr Stimmen sammeln müssen, um so viele Mandate wie die Regierung zu erhalten. 

“Lassen Sie uns mehr sein als 1989, mehr als 1980, mehr als in der "Solidarność", damals waren wir 10 Millionen. Lassen Sie uns mit Herz und Verstand wählen, wen wir wollen, solange es Demokraten sind”, so Gazeta Wyborcza.

Gazeta Polska Codziennie: Sie bereiten sich auf eine Niederlage vor

Die nationalkonservative, regierungsnahe Gazeta Polska Codziennie zeigt sich in der heutigen Ausgabe indes siegessicher. Nach einem langweiligen und vorhersehbaren Wahlkampf spreche das Ende des Kampfes deutlich für die Politiker der Regierungspartei, schreibt der Publizist des Blattes, Tomasz Teluk. Als es so ausgesehen habe, dass die Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO) die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) nach einem Marsch in Warschau einholen kann, habe die Veranstaltung enttäuscht. Dann habe Donald Tusk übertrieben und sei in die Falle einer Fernsehdebatte im TVP getappt. Er habe  seine Unbeholfenheit gezeigt, und Mateusz Morawiecki habe ihn wie ein erfahrener Boxer ausgepunktet. Im Premierminister sei der kämpferische Junge vom Spielfeld erwacht, mit dem selbst ein alter Fuchs wie Tusk nicht gerechnet habe. Danach sei der Bürgerkoalition nichts anderes übrig geblieben, als mit Andeutungen einer Destabilisierung in der polnischen Armee zu spielen. Doch die neuen Ernennungen zum Chef des Generalstabs der polnischen Armee und zum operativen Kommandeur der Streitkräfte hätten alle Zweifel zerstreut. Die Bürgerkoalition habe sich wieder in der Defensive gefunden. Die Wähler werden sich in der letzten Wahlkampfwoche an die goldene Vase von Putin für Tusk und die zwei Goldstücke einer Rentnerin für die Aufwertung der Leistungen für Rentner erinnern. Die Opposition bereite sich auf eine Niederlage vor. Dies sei deutlich an den Vorbereitungen zu erkennen, die Rechtmäßigkeit der Wahlen in Frage zu stellen, so Tomasz Teluk in der Gazeta Polska Codziennie. 

Lasst uns wählen, aber mit Köpfchen, sonst klauen sie uns Polen, appelliert in seinem Kommentar der Chefredakteur des Blattes Tomasz Sakiewicz. Und der Publizist Jan Galarowicz zitiert in seinem Feuillton Viktor Frankl, Karl Jaspers und Erich Fromm. Der kommende Sonntag, so Galarowicz, werde ein Lakmuspapier für unsere Haltung zur Heimat und Demokratie sowie der Verantwortung für die Gemeinschaft sein.  

“Werden wir unsere Freiheit nutzen oder - um den Titel des berühmten Buches von Erich Fromm zu verwenden - werden wir vor der Freiheit fliehen? Werden wir Verantwortung für uns selbst, unsere Lieben und unsere Gemeinschaft - das Vaterland - übernehmen? Werden wir bei der Entscheidungsfindung von unserem Gewissen und gesundem Menschenverstand geleitet?”, fragt Galarowicz in seiner Botschaft vor den Parlamentswahlen.

Autor: Adam de Nisau