Deutsche Redaktion

"Antisemitismus als Mittel zur Spannungsreduktion in Russland"

31.10.2023 14:04
Auch die Kommentatoren in Polen machen auf den verstärkten Antisemitismus in der russischen Propaganda aufmerksam. Greift Moskau Strategien aus dem 20. Jahrhundert wieder auf, um interne, soziale Spannungen zu verringern? Und: Politologe und Philosoph Marek Cichocki macht auf eine beunruhigende Dissonanz zwischen den Sehnsüchten der Polen und globalen geopolitischen Trends aufmerksam. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Przedsiębiorcę z Królewca skazano za zdradę stanu, ale wyrok jest nieprawomocny
Przedsiębiorcę z Królewca skazano za "zdradę stanu", ale wyrok jest nieprawomocnyOleg Kliucharev/ Shutterstock

Wprost: Gezielte Politik des Kremls - Antisemitismus in Russland

In der russischen Republik Dagestan im Nordkaukasus haben vor kurzem Hunderte Dagestaner einen Flughafen gestürmt, um nach jüdischen Passagieren zu suchen. Diese Aktion, zusammen mit dem kürzlichen Ehrenempfang der Hamas-Delegation in Moskau, langjährigen Beziehungen zur Hisbollah sowie der Unterstützung für antisemitische und antiisraelische Regime in Syrien und Iran, deutet auf eine strategische Stoßrichtung des Kremls hin, schreibt Jakub Mielnik im Nachrichtenportal des Wochenblatts Wprost

Mielnik konstatiert in seinem Kommentar, dass Russlands Selbstbild als Zentrum des globalen Anti-Faschismus damit erneut an der Realität scheitert. Die neuen antisemitischen Kampagnen im Land würden zunehmend seine Glaubwürdigkeit untergraben. Die Aktionen, darunter Angriffe auf Juden in russischer Propaganda und Online-Kampagnen, die zu Boykotten gegenüber Juden aufrufen, seien keineswegs spontane Aktionen muslimischer Fanatiker. In einem Land, in dem das Halten eines leeren Blattes auf der Straße als regierungsfeindlich gelte, könnten solche Aktionen nicht ohne Wissen und Zustimmung der russischen Behörden stattfinden, betont Jakub Mielnik in Wprost.

Gazeta Wyborcza: Antisemitismus als Mittel zur Spannungsreduktion in Russland

Auch die linksliberale Gazeta Wyborcza sieht die Gründe für den neuen Antisemitismus im Nordkaukasus in der anti-israelischen Propaganda des russischen Fernsehens und der Unterstützung des Kremls für Palästina. Geht es nach der Zeitung setze Moskau Antisemitismus ein, um inneren Spannungen im Lande ein Ventil zu bieten. Russland, so das Blatt, habe wie gewohnt, die Ukraine und die USA für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. Laut unabhängigen Journalisten indes, würde es in Dagestan schon lange große Spannungen in der Gesellschaft geben. Hinzu komme die emotionale Haltung der Dagestaner zur Situation in Gaza und Israel, die den Terror der Hamas zwar verurteilen aber auch mit der harten Linie Israels nicht einverstanden sind.

Laut Wyborcza habe es am vergangenen Wochenende weitere antisemitische Vorfälle im Kaukasus gegeben. In Chassawiurt hätten Einheimische Hotels nach Personen mit  israelischen Pässen durchsucht, in Tscherkessk habe man zur Abweisung jüdischer Flüchtlinge aufgerufen, und in Naltschik sei ein jüdisches Kulturzentrum angezündet worden. Die Zeitung weist darauf hin, dass der russische Geheimdienst FSB offensichtlich Methoden aus dem 20. Jahrhundert wieder aufnimmt, in der Überzeugung, soziale Spannungen in Russland aufgrund des Kriegs in der Ukraine durch Antisemitismus und Pogrome verringern zu können.

Rzeczpospolita: Polen suchen Ruhe in unruhigen Zeiten

Der Politologe Marek A. Cichocki analysiert in der liberal-konservativen Rzeczpospolita die sozialen Entwicklungen in Polen. Nach drei Jahrzehnten der Transformation und acht Jahren konservativer Regierungsführung, so der Autor, strebe die polnische Gesellschaft, wie eine aktuelle Studie zeige, zunehmend nach Ruhe und Frieden – dies sei ein Hauptmotiv der letzten Wahlen gewesen. Cichocki weist jedoch auf die Ironie hin, dass dieser Wunsch nach Stabilität in einer Zeit wächst, in der die Welt um Polen herum immer gefährlicher wird und das Leben der Polen direkt beeinflusst. Die meisten Polen würden von einem sicheren, friedlichen, demokratischen und gerechten Polen träumen, doch die Frage der nationalen Stärke bleibe oft unbeachtet. Vielleicht erscheine Stärke den Polen immer noch als etwas Obszönes, dass aus unserem Leben eigentlich verschwinden sollte. Das Ignorieren der Notwendigkeit eines starken Polens in einer Welt, in der das Primat der Gewalt zurückkehrt, könnte jedoch problematisch werden. Werde diese Haltung tatsächlich den ersehnten Frieden bringen, fragt Cichocki.

Autor: Piotr Siemiński