Deutsche Redaktion

"Blinde Loyalität", "Komplexe propagandistische Operation", "Keine Mission impossible" - Reaktionen auf Ankündigung des Staatspräsidenten

08.11.2023 12:56
Die Entscheidung von Staatspräsident Andrzej Duda, Mateusz Morawiecki mit der Regierungsbildung zu beauftragen, schlägt weiterhin hohe Wellen in der polnischen Presse. Die Reaktionen reichen von Frust und Vorwürfen an den Staatspräsidenten, den Bürgern erneut ins Gesicht zu spucken, über strategische Überlegungen, worum es bei dem Manöver außer um zusätzliche Zeit zur Vernichtung von komprommitierenden Materialien noch gehen könnte, bis hin zu Hoffnungen auf eine politische Überraschung. Die Kommentatoren machen zudem darauf aufmerksam, dass der Staatspräsident mit dem Auftrag an Morawiecki nicht nur der PiS, aber auch sich selbst Zeit kauft, wie ein hastiger Änderungsversuch im Obersten Gerichtshof zeigt. Die Einzelheiten in der Presseschau.
Mateusz Morawiecki (l) und Andrzej Duda
Mateusz Morawiecki (l) und Andrzej DudaMarek Borawski/KPRP

Die Entscheidung von Staatspräsident Andrzej Duda, Mateusz Morawiecki mit der Regierungsbildung zu beauftragen, schlägt weiterhin hohe Wellen in der polnischen Presse. Der Schritt kommt zwar nicht unerwartet, viele Kommentatoren hatten vorhergesagt, dass der Staatspräsident sich loyal zu seinem politischen Lager verhalten werde. Für Frust sorgt er trotzdem, wie etwa der Kommentar von Wojciech Czuchnowski in der linksliberalen Gazeta Wyborcza zeigt.

Gazeta Wyborcza: Andrzej Duda - der Präsident des PiS-Mafiastaates

Am Montag, dem 6. November 2023, schreibt Czuchnowski, habe Andrzej Duda die Polen mit einem heuchlerischen Lächeln für die „außergewöhnlich hohe“ Wahlbeteiligung bei den letzten Parlamentswahlen gelobt. Er habe sich sogar einen Teil der Verdienste für diese Beteiligung zugeschrieben. Doch fast im gleichen Atemzug habe er deutlich gemacht, dass der Wille der Wähler ihm nichts bedeutet. Die Bevölkerung, die sich deutlich gegen eine Fortsetzung der PiS-Herrschaft ausgesprochen habe, habe erfahren müssen, dass Duda den amtierenden Premier der PiS-Regierung erneut mit der Regierungsbildung beauftragen wolle. Mit anderen Worten, er habe all jenen ins Gesicht gespuckt, die sich gegen ein Diktat von Lügen, Diebstahl und Versagen ausgesprochen hatten und eben den Politiker mit der Regierungsbildung beauftragt, der all diese Missstände verkörpere.

Durch diesen Schritt, fährt der Autor fort, schließe sich Duda den verzweifelten Versuchen der PiS an, die Einheit der Opposition zu zerstören. Diese Taktiken seien zwar zum Scheitern verurteilt, doch sie würden die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den zweifelhaften Aktionen der abtretenden Regierung ablenken und weitere politische Spannungen schüren.

Wiederholt, so Czuchnowski, habe Andrzej Duda gezeigt, dass er ein Präsident für die PiS ist, nicht für das polnische Volk. Diejenigen, die gehofft hätten, er würde sich über parteiliche Interessen erheben, die Verfassung ehren und sich einfach anständig verhalten, seien regelmäßig enttäuscht worden. In entscheidenden Momenten habe Duda stets Partei ergriffen und gemeinsam mit der PiS an der Erosion des Staates und der Untergrabung demokratischer Werte gearbeitet. Seine Entscheidung zu Beginn dieser Woche sei der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung und zeige, dass er ein loyaler Soldat der politischen Mafia ist, die ihre Klauen tief in die polnische Demokratie geschlagen habe.

Andrzej Duda ende so, wie er begonnen habe. Denn obwohl er noch mehr als anderthalb Jahre im Amt sei, markiere der Tag, an dem er gegen den überwältigenden Willen der demokratischen Mehrheit handelte, das symbolische Ende seiner Präsidentschaft, so Wojciech Czuchnowski in der Gazeta Wyborcza.

Rzeczpospolita: Staatspräsident erfüllt Kaczyńskis Wunsch

Etwas gemäßigter im Ton ist der Kommentar von Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita. Der Staatspräsident, so der Autor, habe den Wunsch von Jarosław Kaczyński erfüllt und der PiS einen zusätzlichen Monat verschafft, um den staatlichen Apparat für die Umsetzung ihrer Ziele zu nutzen. Wie Szułdrzyński beobachtet, gehe es dabei jedoch nicht nur um Macht und Geld oder um das Aufräumen nach der Regierungszeit, sondern auch um eine komplexe propagandistische Operation, die die PiS benötigen werde, nachdem sie die Macht abgegeben habe. Denn hätte Andrzej Duda Donald Tusk zum Premierminister ernannt, hätte dies das Ende von Morawieckis Regierungskarriere bedeutet, und der amtierende Premierminister und seine Minister hätten ihre Ämter binnen weniger Tage räumen müssen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Stattdessen habe Duda der PiS eine letzte, aber äußerst wichtige Chance gegeben.

Man könne sich leicht vorstellen, dass Morawiecki nun ernsthaft nach Ministerkandidaten suchen wird. Wahrscheinlich werde er auch ein Regierungsprogramm vorbereiten, das ein Polen beschreibe, in dem Milch und Honig fließe, mit wachsenden Sozialleistungen und einer stolzen nationalen Armee. Er werde das fantastischste Wahlprogramm präsentieren, weil er wisse, dass er es nicht umsetzen muss. Dann kämen die sogenannten öffentlichen Medien und der gesamte Propaganda-Apparat ins Spiel, der verkünden werde, dass die Opposition den Polen Sozialleistungen wegnehmen, zusätzliche Belastungen auflegen, sich aus großen Investitionen zurückziehen und Polen an Russland oder Berlin ausliefern wolle – was in der PiS-Propaganda ja ein und dasselbe sei.

"Putin unterstützt die polnische Opposition", "Angriff auf die polnische Souveränität", "Linker Faschismus zerstört Polen", "Wachsender Widerstand gegen das Essen von Insekten" – diese Schlagzeilen würden wir aus dem Informationsprogramm des öffentlichen Fernsehens, das eine völlig verzerrte Realität zeige, nur zu gut kennen. Im Rahmen dieser alternativen Realität werde Premierminister Morawiecki so tun, als ob er ernsthaft sein Kabinett zusammenstelle oder einen Vierjahresplan schreibe. Bis zur Abstimmung über das Vertrauensvotum, die der ganzen Farce ein Ende setzen werde. In der Zwischenzeit werde die PiS jedoch ihre Wählerschaft für die anstehenden Kommunal- und Europawahlen mobilisieren können. Fazit: Die PiS baue gerade politisches Kapital auf, das sie in den kommenden Jahren nutzen wolle. Und das sei vielleicht das Hauptziel dieser ganzen politischen Farce, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita.

Gazeta Polska Codziennie: Also doch

Auch nationalkonservative Kommentatoren zeigen sich in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung der Regierung PiS mit Morawiecki an der Spitze skeptisch. Als PiS-Politiker würde er, schreibt dazu etwa Grzegorz Wszołek von der Gazeta Polska Codziennie, den Versuch einer Regierungsbildung nur dann unternehmen, wenn die Erfolgsaussichten erheblich wären. Die politische Mathematik der neuen Amtsperiode, so der Autor, scheine indes unerbittlich. Andererseits, fährt Wszołek fort, hätten wir in der polnischen Politik schon so manche Überraschung erlebt – wie etwa die exotische Koalition zwischen PiS, Selbstverteidigung und der Liga der Polnischen Familien oder das unerwartete Verschwinden der SLD aus dem Parlament im Jahr 2015. Vor acht Jahren wäre jeder, der drei aufeinanderfolgende Siege der Vereinigten Rechten und acht Jahre unabhängige Machtausübung prognostiziert hätte, als verrückt abgestempelt worden. Daher sollte man in der Politik das Wort „nie“ meiden, auch wenn die Aufgabe für Morawiecki beinahe unmöglich scheine. “Und sollte die PiS die Mehrheit im Parlament erlangen, sagt bloß nicht, dass dies das Ende der Demokratie bedeutet. Wie lange hätte sie in solcher Rhetorik Bestand? Etwas über einen Monat?”, so Grzegorz Wszołek in der Gazeta Polska Codziennie.

Dziennik Gazeta Prawna: Kampf um Obersten Gerichtshof geht in die nächste Runde

Der Staatspräsident will offenbar mit seinem Manöver nicht nur der PiS, sondern auch sich selbst etwas Zeit kaufen, etwa um Änderungen in der Justiz zu zementieren. Das jedenfalls legt ein kürzlich vom Staatsoberhaupt eingereichter Änderungsvorschlag an der Geschäftsordnung des Obersten Gerichtshofs nahe, schreibt im Aufmacher der aktuellen Ausgabe das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. Wie das Blatt erinnert, wolle der Staatspräsident, dass das für die Beschlussfassung notwendige Quorum von zwei Dritteln auf die Hälfte der Richter gesenkt wird. Experten zufolge, lesen Blatt, würden diese vom Präsidenten vorgeschlagenen Änderungen ein primäres Ziel verfolgen, und zwar die Stärkung der Stellung der so genannten neuen Richter am Obersten Gerichtshof, die auf Vorschlag des aktuellen, laut einem Teil der Experten verfassungswidrig zusammengesetzten, Nationalen Justizrats ernannt worden seien. Jarosław Matras, ein etabliertes Mitglied des Kreises der früher ernannten Obersten Richter, macht im Gespräch mit der Zeitung auf die Gefahr aufmerksam, dass die neuen Richter durch eine Senkung des erforderlichen Quorums zur Beschlussfassung in den Vollversammlungen und Kammern des Gerichts ihre rechtlichen Ansichten anderen Richtern aufzwingen könnten. Diese neuen Richter würden bereits eine numerische Überlegenheit im Gericht genießen.

Die Reformvorschläge des Staatsoberhaupts, fährt das Blatt fort, stünden auch wegen der Eile, mit der sie umgesetzt werden sollen, in der Kritik. Der Gesetzesentwurf datiere auf den 6. November. Die Richter des Obersten Gerichtshofs seien noch am selben Tag darüber informiert worden, dass sie sich schon am nächsten Tag treffen sollen, um die Änderungen zu begutachten. Da sieben Richter die Teilnahme abgelehnt hätten, sei das für eine Bewertung des Präsidentenvorschlags erforderliche Quorum nicht erreicht worden. Nach Ansicht von Richter Matras, der ebenfalls eine Teilnahme verweigerte, dürfen die Änderungen unter diesen Umständen nicht in Kraft treten. Das Gesetz über den Obersten Gerichtshof schreibe vor, dass solche Änderungen erst nach Anhörung des Kollegiums des Obersten Gerichtshofs durch den Präsidenten erlassen werden können.

In einem Brief an die Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs betonen die sieben Richter zudem, dass die Änderung der Quorumsregelung, die im Entwurf enthalten ist, legislative und nicht regulative Materie darstellt und daher nicht in die alleinige Kompetenz des Präsidenten fällt. Die Hast, mit der die Änderungen durchgeführt werden sollen, hänge wahrscheinlich damit zusammen, dass der Entwurf auch eine Unterschrift des Premierministers benötigt, um in Kraft zu treten. Dieses Amt übe derzeit noch Mateusz Morawiecki aus. Der neue Premierminister werde voraussichtlich weitaus weniger geneigt sein, die Vorschläge des Staatspräsidenten zu unterstützen, so Dziennik/Gazeta Prawna.

Autor: Adam de Nisau