Deutsche Redaktion

Wird der Oberste Gerichtshof die Wahlen annullieren?

11.01.2024 10:00
Obwohl Polen bereits ein ernanntes und vereidigtes Parlament mit einem neuen Regierungschef und Ministern hat, so werde die Entscheidung darüber, ob die Wahlen gültig waren, erst heute fallen, schreibt Marcin Makowski für das Nachrichten-Portal des Wochenblatts Wprost. 
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Bild:De Visu/Shutterstock

In dieser Sache tage heute nämlich die außerordentliche Kammer des Obersten Gerichtshofs und die Kammer für öffentliche Angelegenheiten. Ihre Richter seien nach Ansicht der Regierungsmehrheit fehlerhaft gewählt worden. Doch dies dürfte nicht das größte Problem sein. Die Regierung habe nämlich befürchtet, dass die heutige Sitzung des Sejm nicht nur eine reine Formalität sein würde. Der Sejmmarschall, Szymon Hołownia, hat die Sitzung deshalb vorgestern auf nächste Woche verschoben. Der Grund sei nicht nur die Verhaftung zweier prominenter Oppositionspolitiker.

Außerdem gebe es ernsthafte Befürchtungen, dass die Wahlen für ungültig erklärt werden könnten, sagt eine Abgeordnete der Linken gegenüber Wprost. Seit der Abstimmung sind zwar fast drei Monate vergangen, doch so viel Zeit - bis zu 90 Tage - sieht das Wahlgesetz vor, um alle Proteste und Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Wahlen zu überprüfen.

Mit der Absage der Sitzung des Sejm gehe es auch darum, heißt es weiter, ein gefährliches Szenario zu vermeiden. Und zwar in dem der Oberste Gerichtshof die Wahlen am Donnerstag für ungültig erklärt und es zu einer Pattsituation kommt, die in einer Besetzung des Sejm endet. „Ein zweites Capitol", sagt die Abgeordnete der Linken gegenüber Wprost. Dieses Szenario wurde als ernsthaft eingestuft und auf den höchsten Ebenen der Koalition diskutiert.

Teologia Polityczna: Prozedurale Rechtsstaatskrise 

Der ehemalige Politiker der Regierungspartei und Kommentator Jan Maria Rokita analysiert für das Online-Portal der konservativen Zeitschrift Teologia Polityczna das Vorgehen der derzeitigen polnischen Staatsmacht. Seine Schlussfolgerungen sind äußerst beunruhigend. Geht es nach dem Autor befinde sich Polen derzeit in einer prozeduralen Rechtsstaatskrise, was die erste Umwälzung des gesamten Rechtssystems in diesem Ausmaß im Nachkriegseuropa darstelle.

Nach Ansicht des Kommentators birgt diese Krise die Vorzeichen eines politischen Wandels von historischer Bedeutung in sich. Aus dieser historischen Perspektive seien zwei Aspekte besonders interessant und hätten den Charakter von Präzedenzfällen.

Der erste Aspekt, hebt Rokita hervor, sei der innovative und begrenzte Ausnahmezustand, den die neuen Machthaber in Polen anwenden. Wie der Fall der Übernahme und Liquidierung der staatlichen Medien zeige, beschränke sich dieser Ausnahmezustand lediglich auf ein einziges Gesetz über die Medien, dessen Befugnisse von einem der Minister nur in der Praxis ausgesetzt wurden, ohne dass dies formell per Gesetz verkündet wurde.

Der zweite Aspekt sei, nach Ansicht des Autors, ein im Horizont der gesamten europäischen Neuzeit bisher unbekannter Fall der Infragestellung der Rechtsgültigkeit der wichtigsten politischen Institutionen eines Staates. Dazu gehören auch die Gerichte, heißt es. Diese seien auf der Grundlage der Gesetzgebung des Staates eingerichtet worden und würden jetzt vom herrschenden Lager in Frage gestellt, erklärt Jan Maria Rokita.

Die Folgen dieses Präzedenzfalls sollten in seiner nationalen und internationalen Dimension sehr genau beobachtet werden, fährt Rokita fort. Ihm nach sei so etwas nämlich noch niemandem passiert - weder den Gerichten des Dritten Reiches im Entnazifizierungsprozess noch den Gerichten der Sowjetunion oder ihrer Satellitenstaaten nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Weder in Nürnberg noch in Den Haag noch bei irgendeinem anderen Tribunal sei es jemals jemandem in den Sinn gekommen, die nationalsozialistischen oder sowjetischen Gerichte für „nicht rechtskräftig" und ihre Urteile für kollektiv „nicht existent" zu erklären, betont der Publizist.

Auch in Polen, heißt es weiter, wurde die staatliche Kontinuität mit der Volksrepublik Polen nie gebrochen oder die stalinistischen Gerichte als überflüssig behandelt. Man habe stattdessen Verfahren geschaffen, um ihre Urteile für ungültig zu erklären. Die Dynamik des gegenwärtigen Angriffs auf die prozedurale Rechtsstaatlichkeit des polnischen Staates sei in diesem Sinne ein ganz neues Phänomen, lesen wir am Schluss. Es markiere eine völlig neue Ära auf dem europäischen Kontinent, lautet Jan Maria Rokitas Fazit im Blatt.


Dziennik/Gazeta Prawna: Komisch und beängstigend zugleich 

Was derzeit in Polen passiere, sei nur scheinbar schockierend, schreibt indes Krzysztof Jedlak für DGP. Wie wir lesen, seien die Hauptakteure der Ereignisse in irgendeiner Weise schockiert, geschweige denn überrascht. Das von ihnen seit Jahren kaltblütig ausgetragene politische Spiel, sehe nämlich verschiedene Szenarien vor und habe seine Folgen. Einige seien bereits geschehen, die nächsten passieren gerade vor unseren Augen.

Seit einigen Jahren, fährt der Autor fort, gibt es in Polen Richter und sog. Neo-Richter, deren Recht, über einen bestimmten Fall zu entscheiden, oftmals angezweifelt wird. Ihre Autorität sei nicht einmal erwähnenswert. Nach Ansicht der EU-Institutionen und vieler polnischer Juristen und Politiker seien die Kammern des Obersten Gerichtshofs nicht einmal ein Gericht. Der Nationale Gerichtsrat (KRS) und der sog Neo-KRS funktionieren derzeit in Polen auf der gleichen Grundlage. Es gebe auch das Verfassungsgericht und ein Verfassungsgericht das mit der Vorgängerregierung verbunden sei. Ihre Urteile werden daher oft ignoriert oder umgangen. Genauso sehe es in der Staatsanwaltschaft aus. In Polen gebe es inzwischen auch eine Doppelbehörde für staatliche Medien.

Selbst in heftigen Streitigkeiten im Umfeld privater Unternehmen komme es zu solchen Situationen, lesen wir. Aber im öffentlich-rechtlichen Bereich eines Staates sollte sowas nicht passieren.

Schließlich kommen wir zum Kernpunkt der jüngsten Ereignisse. Es gebe jetzt sogar auch Abgeordnete und Parlamentarier, deren Amtszeit entweder gelöscht oder nicht gelöscht wurde. Wir haben Begnadigungen, die für die anderen keine Begnadigung waren. Wir haben Urteile, die es für die einen gibt und für die anderen nicht.

Alles wirke, als gebe es in Polen mehrere parallele Realitäten, die Polen ohne Ausweg akzeptieren müssten. Keiner wolle nämlich, die von sich geschaffene Neuordnung aufgeben. Sollen doch die Menschen wählen - ob sie zu Gerichten mit Richtern oder Gerichten mit Neo-Richtern gehen wollen, heißt es. Vielleicht sollte man gleich auch zwei oberste Gerichte einführen. Vielleicht sogar zwei Verfassungsgerichte und sogar zwei parallele Parlamente.

Selbst die Vorstellung von zwei verschiedenen Gesetzen zu ein und demselben Thema sei in Polen derzeit nicht mehr absurd - solange der Bürger wählen kann, welches Recht er anwenden wolle. Zwei Verfassungen? Nur zu, solange sie von denen respektiert werden, für die sie gelten sollen. Jedlak appelliert als Schlussfolgerung in DGP, vorsichtshalber nur eine Armee zu lassen.


Autor: Piotr Siemiński