Deutsche Redaktion

"Deutsche Soldaten? Herzlich willkommen"

15.01.2024 13:06
In einem ausführlichen Interview für die konservativ-liberale Rzeczpospolita äußert sich Vize-Außenminister Andrzej Szejna zur Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen. Und stellt klar: Auch wenn der Ton konstruktiver werden soll, werden unbequeme Themen nicht automatisch aus der Agenda verschwinden. Außerdem: Geht es nach der Gazeta Wyborcza, sollten die zwei verhafteten PiS-Politiker eigentlich zwei Nächte beim Staatspräsidenten übernachten. Und: Die Kommentatoren bleiben in Bezug auf die Rechtmäßikeit der Festnahme von Wąsik und Kamiński weiterhin tief gespalten. Die Einzelheiten in der Presseschau. 
Niemieccy żołnierze - zdjęcie ilustracyjne
Niemieccy żołnierze - zdjęcie ilustracyjneShutterstock/Joerg Huettenhoelscher

Rzeczpospolita: Deutsche Soldaten? Herzlich willkommen

In einem ausführlichen Interview für die konservativ-liberale Rzeczpospolita äußert sich Vize-Außenminister Andrzej Szejna zur Zukunft der deutsch-polnischen Beziehungen und den Prioritäten der polnischen Außenpolitik unter Donald Tusk. Geht es nach Szejna, sollte das Weimarer Dreieck erneut das wichtigste Kooperations-Format der polnischen Außenpolitik werden. Das Tandem Deutschland-Frankreich, so Szejna, spiele schließlich weiterhin eine Schlüsselrolle in der EU und der Diskussion über ihre Zukunft. Es hätte eine strategische Bedeutung, wenn Polen sich diesem Tandem dauerhaft anschließen würde. In der Visegrád-Gruppe würden Ungarn und die Slowakei im Sicherheits-Bereich dagegen Prioritäten verfolgen, die mit den polnischen inkonsistent seien. Aber natürlich werde Polen versuchen, auch hier den Dialog aufrechtzuerhalten. Ähnlich verhalte es sich mit der Drei-Meeres-Initiative: bisher sei in diesem Format nichts Greifbares erreicht worden. Man müsse im Hinterkopf behalten, dass am 1. Januar 2025 die polnische Präsidentschaft in der EU beginne. Tusk werde dabei von Scholz und Macron als vollständig gleichwertiger Partner betrachtet werden.

Wenn es um die militärische Präsenz Deutschlands an der NATO-Ostflanke gehe, vertrete er, so Szejna, eine andere Meinung, als die Regierung PiS, die der Anwesenheit deutscher Soldaten in Polen skeptisch gegenüberstand. PiS-Chef Kaczyński, erinnert der Politiker, habe betont, dass mindestens sieben Generationen vergehen müssen, bevor der Fuß eines deutschen Soldaten auf polnischem Boden stehen darf. Er indes halte jede Hilfe und Zusammenarbeit der Verbündeten für wünschenswert. Wenn also Deutschland die östliche NATO-Flanke in Polen verstärken möchte, so wie es in Litauen bereits der Fall sei, herzlich willkommen! 

Das, so der Politiker weiter, bedeute allerdings nicht, dass schwierige Themen, wie etwa Reparationen, automatisch aus der Agenda der deutsch-polnischen Beziehungen verschwinden. Die Regierung sei verpflichtet, zwei fast einstimmig angenommene Sejm-Beschlüsse umzusetzen. Hier habe sich nichts geändert. Allerdings halte die Regierung nicht so stark an den Zahlen fest, die sich die PiS ausgedacht habe. Die Art und Weise, wie das Außenministerium der Regierung PiS diese Angelegenheit behandelt habe, erinnere an die Philosophie der Smolensk-Kommission: große Deklarationen, keine Ergebnisse. Stattdessen wolle man mit Deutschland sprechen, so dass eine für Polen vorteilhafte und gerechte Lösung gefunden wird. In der Resolution vom 14. September 2022 sei nicht über die Notwendigkeit die Rede, Reparationen zu zahlen, sondern über die "Annahme politischer, historischer, rechtlicher und finanzieller Verantwortung für die Folgen des Zweiten Weltkriegs". So könnten etwa die Partizipation Deutschlands am Wiederaufbau des Sächsischen Palastes oder die Übergabe von Kunstwerken aus Dresden wichtige Symbole. Aber, so Szejna, man müsse auch über Symbole hinausgehen. Eine gute Lösung könne etwa die Unterstützung des Verbandes Kinder des Krieges durch Deutschland sein, der Personen zusammenbringe, die unter der deutschen Besatzung gelitten hätten. 

In Bezug auf den deutschen Vorschlag, das Vetorecht im EU-Rat in Bezug auf die Außenpolitik abzuschaffen, könne er die dahinterstehende Logik nachvollziehen. Die Union stehe vor der Notwendigkeit, auf Herausforderungen im Zusammenhang mit der Gestaltung einer neuen internationalen Ordnung zu reagieren. Sie dürfe nicht durch die Haltung eines Landes gelähmt sein, wie es kürzlich im Fall der Ukraine durch die prorussische Blockade Viktor Orbáns geschehen sei. Allerdings habe der kürzlich verstorbene legendäre EU-Kommissionschef Jacques Delors, dem wir in hohem Maße den Euro, den Binnenmarkt oder das Erasmus-Programm verdanken, betont, dass sich die Union nicht entwickeln wird, wenn sie die Identität ihrer Mitgliedstaaten nicht respektiert. Sicherlich müssten daher einige Entscheidungen, wie die Aufnahme neuer Staaten in die EU, einstimmig getroffen werden. Ob dies auch für die Außenpolitik gelte? Dies sei ein guter Zeitpunkt, um eine Diskussion darüber zu beginnen. Aber angesichts des Krieges in der Ukraine oder des Konflikts im Nahen Osten sollten wir mit einer Antwort nicht überstürzt vorgehen. Stattdessen sei es notwendig, eine breite Diskussion im Geiste der bestehenden Verträge zu führen.

In Bezug auf die Migrationsdebatte schließlich, so Szejna, stehe er hinter der Ankündigung von Donald Tusk, dass Polen keine Asylbewerber im Rahmen des obligatorischen Verteilungssystems in der EU aufnehmen wird. Polen dürfe nicht mit zusätzlichen Pflichten im Bereich der Migration belastet werden, denn obwohl wir den Ukrainern nur Siege wünschen, können wir nicht ausschließen, dass eine russische Offensive dazu führen könnte, dass die Front nach Westen verschoben wird und weitere Millionen Ukrainer, hauptsächlich Frauen und Kinder, in Polen auftauchen. Das wäre eine enorme Belastung für unser Land, und die polnische Gesellschaft muss darauf vorbereitet sein. Man sollte dieses Thema aber konstruktiv angehen, nicht das Gefühl haben, dass Brüssel zu viel von uns verlangt, so Vize-Außenminister Andrzej Szejna im Interview mit der Rzeczpospolita.


Gazeta Wyborcza: Wąsik und Kamiński sollten im Präsidenten-Palast übernachten

Die linksliberale Gazeta Wyborcza rekonstruiert unter Berufung auf Augenzeugenberichte die Verhaftung der PiS-Politiker Kamiński und Wąsik im Präsidentenpalast am 9. Januar. Aus Augenzeugenberichten, so die Zeitung, ergebe sich folgender Ablauf der Aktion: Wąsk und Kamiński, so der Plan, sollten zwei Nächte im Präsidentenpalast übernachten und sich anschließend am Donnerstag direkt der Kundgebung der PiS gegen die Regierung anschließen. Die beiden Politiker, die - trotz Gerichtsurteil und gerichtlichem Beschluss zur Überführung in eine Haftanstalt - in den Palast zur Zeremonie der Ernennung zweier ihrer Mitarbeiter zu Beratern des Staatspräsidenten eingeladen worden waren, hätten im Laufe des Tages Koffer mit Privatsachen zugeschickt, zwei Gästezimmer zugeteilt und die Telefonnummer zur Küche bekommen. Staatspräsident Duda habe eine inoffizielle Zusicherung von der Polizei erhalten, dass die Beamten nicht in den Palast eindringen würden. In Abwesenheit des Präsidenten seien Polizisten aber von zwei Stellvertretern des Kommandanten des Staatsschutzes auf das Gelände des Palastes hereingelassen worden. Während der Festnahme habe es keine Zwischenfälle oder "Schlagen von Kamiński gegen den Türrahmen" gegeben, im Gegensatz dazu, was regierungskritische Medien berichtet hätten. Die Politiker seien in Handschellen abgeführt worden. Der Stadtbus habe die Kolonne des Präsidenten nicht blockiert. Es habe wenig gefehlt, und der von Belvedere zurückkehrende Präsident Duda wäre auf die Polizisten gestoßen, die die Festgenommenen abführten. Duda habe einen für 16 geplanten Physiotherapeuten-Termin in den Präsidentenpalast verlegt, um den Palast nicht verlassen zu müssen. Einen für 18 Uhr geplanten Termin im Belvedere mit der Anführerin der belarussischen Opposition, Swetlana Tichanowskaja und etwa 200 Gästen habe er jedoch wahrnehmen müssen. Während der Abwesenheit des Staatspräsidenten habe die Polizei, in Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz, der für die Sicherheit des Staatspräsidenten verantwortlich sei, die Festnahme durchgeführt. Der Präsident habe sein Treffen unterbrochen, sei eiligst in den Palast zurückgekehrt und sei drei Minuten nach der Abführung von Kamiński und Wąsik im Palast eingetroffen, berichtet Gazeta Wyborcza. 

Do Rzeczy: Anschlag auf Begnadigungsrecht des Präsidenten

In Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Verhaftung von Wąsik und Kamiński bleiben die Kommentatoren in Polen tief gespalten. In seinem Leitartikel zur aktuellen Ausgabe des nationalkonservativen Wochenblatts Do Rzeczy stellt der Chefredakteur des Blattes Paweł Lisicki als Anschlag auf das Begnadigungsrecht des Präsidenten dar. Das Argument, dass der Präsident nur im Falle eines abgeschlossenen Verfahrens und nach einem rechtskräftigen Urteil rechtskräftig von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch machen könne, so Lisicki, sei aus mehreren Gründen inakzeptabel. 

Erstens widerspreche eine solche Argumentation der Interpretation, die wiederholt vom Verfassungsgerichtshof und von der Außerordentlichen Kontrollkammer des Obersten Gerichtshofs vorgebracht worden sei. Zweitens würde eine solche Interpretation – dass der Präsident warten muss, bis ein endgültiges Urteil eines entsprechenden Gerichts vorliegt, um jemanden zu begnadigen – die Macht des Präsidenten in diesem Bereich praktisch einschränken. Das Amt des Präsidenten, so Lisicki, sei befristet, der Verlauf und die Dauer des Gerichtsverfahrens würden indes vom Willen der Richter abhängen. Es würde also ausreichen, wenn das Gericht den Fall so lange hinauszögern würde, bis die Amtszeit des Staatsoberhauptes ende, und dann könnte der Präsident sein Recht nicht nutzen. Die Abhängigkeit der Anwendung des Begnadigungsrechts von einem Gerichtsurteil führe daher zur Politisierung der Justiz. Die Richter könnten das Gerichtsverfahren je nach erwarteter Reaktion des Präsidenten länger oder kürzer führen. Sie könnten leicht einen Präsidenten „überdauern“, den sie nicht mögen, besonders wenn der Prozess Politiker betreffe. Das Begnadigungsrecht würde illusorisch werden – und genau das sei im Fall der Minister Kamiński und Wąsik der Fall gewesen. Um freigelassen zu werden, habe der Präsident sie noch einmal begnadigen müssen, was seinem Ansehen schade. 

Doch der Kern des Streits, so Lisicki, sei nicht eine juristische Frage, sondern etwas anderes: Es gehe um die Annahme, die von der derzeit regierenden Koalition getroffen worden sei, dass sie praktisch nicht an Gesetze und Recht gebunden ist, die während der PiS-Regierung verabschiedet wurden. Dies sei nicht nur eine absurde Position, sondern auch eine, die den Staat gefährde. Das würde bedeuten, dass es einen größeren Unterschied zwischen einem von der PiS und einem von der PO regierten Staat gebe als zwischen der kommunistischen Volksrepublik Polen und der Dritten Republik Polen. Die derzeit Regierenden würden sich so verhalten, als wären sie nicht durch normale, demokratische Wahlen an die Macht gekommen, sondern durch einen Umsturz und eine Revolution. Als ob sie wirklich glauben würden, was der verrückteste Teil der Anti-PiS-Anhänger behaupte, nämlich an einem Sieg über das Regime, den Autoritarismus usw. Als ob der polnische Staat während der PiS-Regierung seine Kontinuität verloren hätte. Als ob es ihn nicht gäbe – und zwar noch weniger als die Volksrepublik Polen!

Dieser Ansatz sei auch in sich widersprüchlich. Denn wenn der polnische Staat durch die bloße Tatsache einer PiS-Regierung „verdorben und kontaminiert“ worden sei, dann sollte sich die neue Regierung konsequenterweise weigern, im Präsidentenpalast vereidigt zu werden. Ebenso sollte sie das Vetorecht von Andrzej Duda nicht respektieren, sondern Gesetze entgegen dem präsidentiellen Veto verabschieden, das dadurch „ausgesetzt“ würde. Ebenso sollte sie Urteile des Verfassungsgerichtshofs nicht berücksichtigen, der ja grundsätzlich ungerecht und illegal ist. Wie lasse sich das mit der Tatsache vereinbaren, dass die derzeitige Parlamentsmehrheit eine legale Regierung durch legale Wahlen gebildet hat? Wie sei aus einem Zustand der rechtlichen Nichtexistenz, also einem Zustand, in dem Regime und Autoritarismus herrschten, die derzeitige, legale Regierung entstanden? Laut dieser Logik sei das unmöglich. Wenn die PiS-Regierung den Staat so stark kontaminiert habe, dass die rechtliche Kontinuität unterbrochen wurde, dann sei auch die derzeitige Regierung illegal und übe die Macht nicht aufgrund von Wahlen (die ja ungültig sein müssten), sondern aufgrund eines Umsturzes aus. Damit würde sich die Parlamentsmehrheit in ein wahrhaft revolutionäres Organ verwandeln, das die Macht aus sich selbst heraus gewinne und sich auf Gewalt stütze. Das bedeute in der Praxis die Herrschaft in einem Ausnahmezustand. Damit der Staat in dieser Situation handlungsfähig bleibe, müsse er immer mehr Gewalt anwenden. Es sei ein Weg ins Nichts.

Gazeta Wyborcza: Regierung darf Staatsanwaltschaft und öffentliche Medien ändern

Von einer Verfassungskrise spricht im Gespräch mit der linksliberalen Gazeta Wyborcza auch der Verfassungsrichter im Ruhestand, Prof. Mirosław Wyrzykowski, kommt dabei jedoch zu einem ganz anderen Fazit. Aus seiner Sicht, so Wyrzykowski, könne man derzeit von einer Situation sprechen, in der die Formel von Gustav Radbruch, einem deutschen Juristen und Rechtsphilosophen, angewendet werden könne. Radbruch, erinnert der Jurist, habe sich mit Fragen zur Organisation des deutschen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg befasst, der damals noch nicht existierte, da es vier Besatzungszonen gab – damit also, wie das Problem des schrecklichen Erbes des faschistischen Staates gelöst werden könnte. Wenn wir die polnische Gesetzgebung der letzten acht Jahre beobachten, so Wyrzykowski, können wir feststellen, dass Radbruchs These dramatisch aktuell ist, dass es Gesetze geben kann, die so ungerecht und schädlich sind, dass ihnen der Charakter eines geltenden Rechts abgesprochen werden sollte. Wenn Radbruch den Zustand der polnischen Gesetzgebung beurteilen würde, könnte er zu dem Schluss kommen, „dass viele Gesetze die Würde geltenden Rechts nicht erreicht haben“. Daraus ergebe sich die folgende Konsequenz: Eine eklatant ungerechte Norm sollte sogar rückwirkend aufgehoben werden oder ein Gericht sollte deren Anwendung verweigern und dabei Gerechtigkeitsprinzipien annehmen.

Analogien, fährt Wyrzykowski fort, können trügerisch sein, aber auch dramatisch überzeugend. Wir würden uns in einer Situation befinden, in der wir nach Ansätzen suchen müssen, die für die Lösung der in den letzten Jahren geschaffenen Probleme angemessen seien. Dabei müssten wir über den juristischen Formalismus hinausgehen und Probleme lösen, indem wir unser Denken in den Prinzipien und Werten der Verfassung sowie in den Richtlinien des europäischen Rechts und der Rechtsprechung der europäischen Gerichte verankern. Eine zusätzliche Schwierigkeit sei psychologischer und erkenntnistheoretischer Natur, da diejenigen, die dazu geführt hätten, dass die Republik Polen in eine Verfassungskrise geschlittert sei, heute den Mund voll von Verfassung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten haben. Lassen wir uns nicht täuschen, so Prof. Mirosław Wyrzykowski in der Gazeta Wyborcza.

Autor: Adam de Nisau