Rzeczpospolita: NATO hilft der Ukraine nur so, dass Russland nicht gewinnt, aber auch nicht besiegt wird
Die Strategie der NATO-Staaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine besteht darin, zu verhindern, dass sowohl Moskau als auch Kiew gewinnen, sagt der pensionierte Professor der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Adam Lipkowski, im Gespräch mit der Rzeczpospolita. Ihm zufolge wäre jede dieser beiden Optionen eine geopolitische Bedrohung. Im ersten Fall gehe es um die Sicherheit der europäischen NATO-Staaten, im zweiten um die globale Stabilität.
Nach Ansicht des Professors reicht das Problem jedoch tiefer. Nach mehr als zwei Jahren Krieg müssten die Staaten, von denen die Beendigung des Konflikts abhängt, die grundsätzliche Frage nach den realen Aussichten auf ein Kriegsende stellen. Wie in jedem Krieg gebe es auch in diesem drei logisch mögliche Optionen für sein Ende, lesen wir im Blatt: Einen Sieg der Ukraine, einen Sieg Russlands und ein „Unentschieden“ als Ergebnis von Verhandlungen. Die dritte Option, so Professor Lipkowski, werde von der Ukraine entschieden abgelehnt.
Die erste Option wecke indes im Westen geopolitische Bedenken. Ein ukrainischer Sieg könnte zum Zusammenbruch des Putin-Regimes führen, wobei Putin selbst durch einen noch unberechenbareren und damit gefährlicheren Diktator ersetzt werden könnte. Der Zerfall der russischen Staatsstruktur könnte auch im Chaos enden. Unverantwortliche Kräfte könnten das russische Atomwaffenarsenal an sich reißen, was schwer absehbare negative Folgen hätte, einschließlich des Risikos eines globalen Konflikts, so der Experte.
Lipkowski zufolge gehe aus dem bisherigen Verlauf des Krieges hervor, dass die umstrittenste Frage eben die Haltung der NATO-Staaten gegenüber der ersten Option sei. Seit Beginn der russischen Aggression bestehe nämlich eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Ukraine und der tatsächlichen Reaktion des Westens. Wie wir lesen, hätten die NATO-Staaten es bisher versäumt, der Ukraine Ausrüstung und Munition in einem Umfang zu liefern, der es Kiew ermöglichen würde, die Aggression abzuwehren und seine territoriale Integrität wiederzuerlangen. Genau das, was Wolodymyr Selenskyj in den Medien und bei seinen Reisen in die USA und nach Westeuropa von Anfang an gefordert habe. Und indem sich der Westen nicht in vollem Umfang zu militärischer Hilfe verpflichte, dulde er faktisch die von Russland in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen. Ein Beweis dafür seien auch die wirkungslosen Wirtschaftssanktionen gegen den Kreml.
Die zu erwartenden Folgen der ersten Option würden die NATO-Staaten als geopolitisch zu gefährlich einschätzen, um die Ukraine auch mit Angriffswaffen mit großer Reichweite zu beliefern. Ihre Strategie beruhe damit logischerweise auf dem unausgesprochenen Gedanken, dass die Verhinderung der Zerstörung des russischen Staates eine höhere geopolitische Priorität habe als die Rückkehr der Ukraine zu den Grenzen von 2014. Genau so sehe die Situation auch einer der Anführer der russischen Opposition und Schachweltmeister, Garri Kasparow. Kürzlich bestätigte auch er in einem Interview mit der Rzeczpospolita, dass diese von den USA umgesetzte Strategie falsch sei. Dennoch gebe es derzeit keine Anzeichen dafür, dass sich die bisher von den NATO-Staaten verfolgte Strategie in absehbarer Zeit entsprechend den Erwartungen der Ukraine ändern werde, so Professor Adam Lipkowski im Gespräch mit Rzeczpospolita.
Plus Minus: Europäische Wahlen - Kauf einer Katze im Sack
Was denken die Spitzenpolitiker der Regierungskoalition wirklich über den Green Deal? Welche Richtung wollen sie der EU mit ihren Verbündeten in Europa geben? Im Wahlkampf gab es bisher mehr scharfe Angriffe auf die Opposition, die ebenso brutal reagierte, als konkrete Ankündigungen zur EU-Politik, schreibt Piotr Zaremba für das Wochenendmagazin der Rzeczpospolita “Plus Minus”.
Die seit Monaten andauernden Proteste der Bauern, so der Autor, würden nicht zulassen, dass das Thema der grünen Revolution der EU begraben werde. Einerseits würden die Politiker der derzeitigen Regierungskoalition die Schuld für den Green Deal auf die ehemalige Regierung der Recht und Gerechtigkeit (PiS) schieben. Andererseits wollten sie ihn auch selbst nicht ablehnen. Sie möchten ihn nur ändern, ohne jedoch genauere Details zu nennen.
Tusk habe zudem die Rolle des Verteidigers der östlichen Grenze übernommen. Migranten seien nicht mehr „arme Menschen, die einen Platz auf der Erde suchen“, sondern „Werkzeuge Lukaschenkas“. In dieser Frage spreche der Premier heute die Sprache der PiS. Bezüglich des Migrationspakts wiederhole der Premierminister, dass er für Polen nicht bindend sein werde, ohne jedoch eine klare taktische Vorgehensweise zu beschreiben, die zu diesem „Nicht-Binden“ führen solle. Ab 2026 könnte Polen jedoch gezwungen sein, entweder umgesiedelte Migranten aufzunehmen oder für sie zu bezahlen. „Sie werden zustimmen, was man ihnen befiehlt“, sage der PiS-Europaabgeordnete Jacek Saryusz-Wolski über die Zukunft der Regierung. Dies sei letztlich eine Niederlage für Tusk, der die Kaczyński-Partei kritisiert habe, weil sie den Migrationspakt nicht blockieren konnte.
Bei den letzten Parlamentswahlen habe die Mehrheit der Landwirte für die Rechte gestimmt. Über das Kräfteverhältnis im Parlament hätten jedoch vor allem städtische Wählergruppen entschieden. Die Diskussion über die Landwirtschaft offenbare jedoch Gefahren, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Landwirtschaftliche Betriebe in Europa könnten verschwinden, was Europa zwingen könnte, Lebensmittel nicht aus der Ukraine, sondern aus Lateinamerika zu importieren. Bei den Wahlen stehe somit auch die Selbstversorgung des Kontinents mit Nahrungsmitteln auf dem Spiel.
Polens Premierminister spreche über den Green Deal ausschließlich in einer Sprache, die seine positiven Aspekte hervorhebe. Man wisse jedoch nicht wirklich, was Donald Tusk verspreche und wie viel davon nach den Europawahlen tatsächlich umgesetzt werde. Genauso vage äußere sich auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. In Polen werde die rechte Partei PiS als Verursacher des Green Deals dargestellt. Der Autor erinnert jedoch daran, dass auch Abgeordnete der Bürgerplattform (PO), der Bauernpartei (PSL) und der Linken für die Annahmen des Green Deals gestimmt hätten, zum Beispiel für das Verbot des Kaufs von Neuwagen mit Verbrennungsmotoren nach 2035. Einerseits gäben die Politiker der derzeitigen Regierungskoalition der PiS die Schuld am Green Deal, andererseits seien sie selbst nicht bereit, ihn abzulehnen. Stattdessen sprächen sie nur von unklaren „Änderungen“.
Der Autor habe zudem den Eindruck, dass sowohl die Präsidentin der Europäischen Kommission als auch Donald Tusk bei zentralen Fragen wie der endgültigen Gestaltung der Klimapolitik und der unklaren Idee der Schaffung einer europäischen Streitmacht zu viel improvisieren würden. Sie wollten mehr Macht für die EU-Zentrale, wüssten aber nicht wirklich, wie sie diese nutzen sollten. Wie sich die klimatischen Zwänge der Wirtschaft mit intensiver Aufrüstung vereinbaren ließen, frage der Autor. Es habe sogar Forderungen nach dem Aufbau einer „ökologischen Armee“ gegeben. Bis heute bleibe unbekannt, was die neue Regierungskoalition in Polen und das Team, das sich auf die Herrschaft in Europa vorbereite, über diese Schlüsselfragen denken.
Die Wähler seien dazu verdammt, die Katze im Sack zu kaufen. Es gebe keine Gewissheit über die Richtung, die die Europäische Union einschlagen werde. Die zunehmende Macht der Eurokraten werde jedoch immer deutlicher sichtbar. Der Inhalt bleibe jedoch mehr als getrübt, laute Zarembas Fazit in der Rzeczpospolita.
Autor:Piotr Siemiński