Deutsche Redaktion

Heute würden die Deutschen Reinefahrt ausliefern

01.08.2019 13:10
Natürlich schreiben die Zeitungen heute vor allem über ein Thema. Den 75. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands. Neben innenpolitischen Kommentaren zum Jahrestag, greifen die Publizisten auch zahlreiche deutsch-polnische Akzente auf. 
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Gazeta Polska Codziennie: Polen ist stolz auf Euch

Heute vergehen genau 75 Jahre seit dem Moment, als Warschau sich zum offenen Kampf gegen den deutschen Besatzer erhoben hatte, schreibt auf ihrer Titelseite die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie. 63 Tage lang, vor den Augen der passiven, auf der anderen Seite der Weichsel stationierenden Sowjets, hätten die warschauer Aufständischen um Freiheit und Würde gekämpft. Trotz des riesigen Preises, den Polen dafür zahlen musste und 75 Jahren von Propaganda, die den Sinn des Aufstands anfechtete, würden 91 Prozent der Polen deklarieren, dass der 1. August 1944 für sie von großer Bedeutung ist. Ruhm und Ehre für die Helden!, so Gazeta Polska. 

 

Gazeta Wyborcza: Heute Ehre für die Aufständischen, morgen für die Faschisten

Die linksliberale Gazeta Wyborcza nutzt den Anlass um innere Widersprüche in der Geschichtspolitik der Regierungspartei anzuprangern. So werde Staatspräsident Andrzej Duda, laut dem Blatt, heute zwar die warschauer Aufständischen ehren, aber schon in zehn Tagen werde er polnische Kollaboranten des dritten Reichs würdigen. Denn am 11. August, so das Blatt, werde Duda die Schirmherrschaft über den Jahrestag der Entstehung der Świętokrzyska-Brigade der Nationalen Streitkräfte übernehmen, die die Zusammenarbeit mit der Heimatarmee ablehnte und mit der Wehrmacht zusammenarbeitete. Die Brigade, erinnert das Blatt, hätten Aktivisten der durch Nationalisten aus dem National-Radikalen Lager ONR ins Leben gerufenen Nationalen Streitkräfte gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, Polen von allen fremden Elementen, darunter von Juden zu säubern. Heute würde der Staatspräsident diejenigen, die gegen die Deutschen kämpften und diejenigen, die im Namen des Antikommunismus mit ihnen kollaborierten in einer Reihe stellen, schreibt die Gazeta Wyborcza.

Natürlich schreiben die Zeitungen heute vor allem über ein Thema. Den 75. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands. Neben innenpolitischen Kommentaren zum Jahrestag, greifen die Publizisten auch zahlreiche deutsch-polnische Akzente auf. 

 

Rzeczpospolita: Zu spät für Gerechtigkeit

Mitte der neunziger Jahre sei er mit einer Gruppe von Journalisten aus dem Osten in Stuttgart zu Gast gewesen, erinnert sich der Publizist der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita, Jerzy Haszczyński. Eine russische Jüdin, habe ihm - überrascht vom Wohlstand Westdeutschlands - gesagt, bisher habe sie in der Überzeugung gelebt, dass ihr Land den Krieg gewonnen habe. Wenn er wiederum, so der Autor, in seinem warschauer Viertel die wenigen, aber wunderschönen Villen bewundere, die so anders seien, als die die Landschaft dominierenden Wohnblöcke, könne er sich nicht von dem Gedanken befreien, dass diese nur deswegen überdauert haben, da während der Besatzung Deutsche in ihnen lebten.

Der Gedanke, wie es möglich gewesen sei, dass Verbrecher, wie Heinz Reinefahrt, die für die Ermordung von Tausenden von Polen verantwortlich gewesen seien, ihre letzten Tage als geschätzte Bürger oder bewunderte Fachmänner erleben konnten, quäle ihn noch immer. Jetzt sei die Bereitschaft zu Abrechnungen hoch, aber die Täter seien fast hundert Jahre alt und es seien auch nicht die wichtigsten. Seine traurige Konstatierung laute daher: für Gerechtigkeit sei es fast immer zu spät.

Wir, so Haszczyński, müssten mit dieser Last leben und versuchen, die Beziehungen zu Deutschland, dem wichtigsten Partner in Europa, nicht mit ihr zu belasten. Gleichzeitig seien jedoch auch Wissen und Sensibilität der anderen Seite notwendig. 2015 habe Kanzlerin Angela Merkel gesagt: Dass wir uns so nahe stehen, verdanken wir vor allem Polens Bereitschaft zur Versöhnung und zur Partnerschaft mit Deutschland “trotz unvorstellbarer deutscher Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs”. Es bleibe zu hoffen, dass solches Denken nicht mit Angela Merkel vergehe, so Jerzy Haszczyński in der Rzeczpospolita. 

 

Rzeczpospolita: Heute würden die Deutschen Reinefahrt ausliefern

In einem weiteren Artikel bewertet die Rzeczpospolita die Tatsache, dass Deutschlands Außenminister an den Feierlichkeiten teilnehme, als Fortschritt in den beidseitigen Beziehungen. 2004, zum 60 Jahrestag des Ausbruchs der Erhebung in Warschau, habe Bundeskanzler Gerhard Schröder die polnische Hauptstadt besucht. Die Treffen mit polnischen Kombatanten, so das Blatt, hätten ihn damals sichtlich berührt. Nun folge Heiko Maas diesem Beispiel. Zudem werde am 5. August, zum Jahrestag des Beginns des Massakers von Wola auch der Bürgermeister von Westerland Nikolas Hackel zu Gast in Polen sein. In Westerland, erinnert Rzeczpospolita, habe der für das Massaker verantwortliche Heinz Reinefarth in den fünfziger Jahren ebenfalls als Bürgermeister Karriere gemacht. “Das wird eine sehr wichtige Visite sein. Ein Symbol der Sühne, nicht so sehr für die an Polen begangenen Verbrechen, sondern dafür, dass in diesem Verwaltungsgebiet ein solcher Verbrecher eine solche Karriere machen konnte. Eine symbolische Genugtuung dafür, dass damals niemand die riesige Schuld in Betracht ziehen wollte, die auf diesem Menschen lastete”, so der Direktor des Museums des Warschauer Aufstands, Jan Ołdakowski zu Reinefahrt in der Rzeczpospolita. 


Dziennik/Gazeta Prawna: Anfänge der Zusammenarbeit sind schon da

Łukasz Grajewski vom Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna macht in seinem Kommentar indes darauf aufmerksam, wie häufig der Warschauer Aufstand immer noch mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselt wird. So habe etwa die französische Informationsagentur AFP Anfang Juli in ihrer Vorschau wichtiger Ereignisse geschrieben: "Donnerstag, 1. August, 75. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto". Die lakonische Falschmeldung sei in einigen tausend Inboxes gelandet. Ähnliche Irrtümer, erinnert der Autor, seien auch häufig den deutschen Medien unterlaufen, was die Polen noch stärker irritierte. In der öffentlichen Meinung in Deutschland, so Grajewski, seien die Kämpfe im Warschauer Ghetto aufgrund der berühmten Geste von Willy Brandt verankert, der 1970 während seines Besuchs in Polen vor dem Denkmal der Helden des Ghettos niederkniete. Auch wenn er es gewollt hätte, so der Autor, hätte Brandt die warschauer Aufständischen nicht separat würdigen können, da damals die Erinnerung an die Erhebung der Hauptstadt und ihr Kult von den kommunistischen Machthabern unterdrückt worden seien. Das Unwissen habe jedoch auch nach dem Fall des Kommunismus angehalten. Bundespräsident Roman Herzog, der am 1. August 1994 an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Erhebung teilgenommen habe, habe den Aufstand in einer Aussage für deutsche Medien auch mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselt. Bei alledem müsse man jedoch auch bedenken, wie lange es die Polen selbst gebraucht hätten, um die Erinnerung an den Aufstand neu zu lernen. So werde das Wissen über die Kämpfe von vor 75 Jahren auf eine große Skala erst seit der Entstehung des Museums des Warschauer Aufstands 2004 popularisiert. Und die Promotion dieses Wissens außerhalb der Landesgrenzen sei schon allerneueste Geschichte.

Eine wichtige Rolle bei der Popularisierung dieses Wissens in Deutschland, betont Grajewski, spiele das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin, wo vor fünf Jahren Staatspräsident Bronisław Komorowski und Bundespräsident Joachim Gauck die Ausstellung “Warschauer Aufstand 1944” eröffnet hatten. Am vergangenen Freitag sei die Ausstellung, in aufgefrischter Form, erneut eröffnet worden. Dadurch, lesen wir, würden nicht nur die Einwohner Berlins, aber auch viele Touristen aus aller Welt die Geschichte des Aufstands kennenlernen können.

Natürlich sei im Bereich des geschichtlichen Bewußtseins noch viel zu tun. Aber Deutschland und Frankreich hätten nach dem Zweiten Weltkrieg, laut dem deutschen Wirtschaftsminister Peter Altmeier, 30 Jahre gebraucht, bevor der Beginn echter Zusammenarbeit zu beobachten war. Auch die deutsch-polnischen Beziehungen seien, ab 1989 zählend, nun 30 Jahre alt. Und man könne sagen, dass auch hier erste Sprösslinge einer Zusammenarbeit zu sehen seien. Das stimme optimistisch für die Zukunft, so Łukasz Grajewski in Dziennik/Gazeta Prawna. 


Autor: Adam de Nisau