Wie er im Gespräch mit der polnischen Presseagentur PAP feststellte, habe sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien auf den Gaza-Konflikt verschoben. „Sie dürfen nicht vergessen und müssen der Öffentlichkeit bewusst machen, dass der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, im Grunde ein entscheidender Krieg für die Zukunft Europas und sogar für (Gebiete) außerhalb Europas ist. Es ist ein Krieg, bei dem wir nicht akzeptieren können, ihn zu verlieren. Ein Krieg, den wir gewinnen müssen", betonte der Experte.
Was die Unterstützung für Kiew im Krieg gegen Moskau angeht, herrsche nach den jüngsten Meinungsumfragen in den meisten EU-Ländern immer noch eine überwältigende Unterstützung für die Ukraine, erklärte Tenzer. Demnach würden auch in den USA etwa 80 Prozent der Befragten Russland als Bedrohung sehen. Laut Tenzer herrscht in den Medien jedoch ein „Defätismus".
„Wir haben Artikel im Economist, in der Washington Post, der New York Times, der Times of London oder der französischen Presse, die von einer Niederlage der Ukraine sprechen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Defätismus auch durch die russische Propaganda verstärkt wird. Wir sehen, dass die Russen in den sozialen Medien versuchen zu behaupten, dass die Ukrainer nicht gewinnen können, usw. Das ist das Narrativ Moskaus", so der Experte.
„Naivität und Gier europäischer Firmen"
Tenzer wies auch auf die irreführende Politik europäischer Großunternehmen hin, die in die Entwicklung Russlands investierten. „Vor 18 Jahren habe ich einigen sehr großen Unternehmen geraten, keine Geschäfte in Russland zu machen. Diese Unternehmen haben noch vor 2022 viel Geld verloren, bis zu 600 Millionen Euro. Viele französische Unternehmen erwarteten, dass sich in Russland eine große Mittelschicht entwickeln würde, aber das ist nicht geschehen. Die Unternehmen haben auch die politischen und rechtlichen Risiken unterschätzt. Wenn französische, deutsche und britische Unternehmen in Russland blieben, wurden sie von einer Mischung aus Naivität und Gier getrieben. Ich habe kein Mitleid für sie."
„EU- oder NATO-Soldaten als Sicherheitsgarantie in befreiten Gebieten"
Geht es nach dem Experten sei es jetzt höchste Zeit für Kiews Verbündete, moderne Waffen an die Ukraine zu liefern, die bisher aus blieben. „Die EU und die USA hätten viel mehr tun können. Ich weiß, dass es Gespräche zwischen Frankreich und der Ukraine über bilaterale Sicherheitsgarantien für Kiew gibt. Aber ich denke, Emmanuel Macron und die EU-Spitzenpolitiker sollten versuchen, einige Länder zu überzeugen, die über die Zukunft der EU nachdenken, darunter Polen, Tschechien, die baltischen Staaten und vielleicht noch ein paar andere, Truppen in die befreiten Gebiete der Ukraine zu schicken - entweder unter dem Schirm der EU oder der NATO", bewertete Tenzer.
„Diese Soldaten werden nicht dafür kämpfen, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Die Stationierung von Truppen dort wird jedoch zumindest einige Garantien für die Gebiete bieten, die derzeit frei von russischen Streitkräften sind. Wenn wir die Ukraine jetzt nicht in die NATO aufnehmen können, weil der Krieg noch andauert, könnten wir die NATO in der Ukraine oder die EU in der Ukraine haben. Das wäre die konkreteste Sicherheitsgarantie, die wir bieten könnten", so der französische Experte für PAP.
Tenzer geht davon aus, dass Russland diese Länder zwar bedrohen würde, aber diese Länder sind auch NATO-Länder. „Wenn die Streitkräfte der NATO-Länder in irgendeinem Teil der Welt, in der Ukraine oder anderswo, angegriffen werden, dann könnten diese Länder Artikel 5 des Nordatlantikvertrags (die Bündnisklausel, die eine gemeinsame Verteidigung innerhalb der NATO vorsieht - Anm. d. Red.) auslösen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Moskau dieses Risiko nicht eingehen wird", erklärte er.
Auf die Frage, wie lange die Ukraine der russischen Aggression noch standhalten kann, sagte der Experte, dass „alles von den neuen Waffen abhängt, die in den kommenden Wochen und Monaten auftauchen werden". Tenzer geht davon aus, dass die Ukraine im späten Winter oder Frühjahr über F-16-Mehrzweckflugzeuge verfügen wird. „Das könnte die Spielregeln ändern. Wir wissen immer noch nicht, ob die USA weitere ATACMS-Langstreckenraketen liefern werden - es scheint, dass sie nur 20 geliefert haben und leicht 200 oder 300 liefern könnten, ohne ihre Bestände zu erschöpfen. Was die deutschen Taurus angeht, bin ich sehr pessimistisch. Bundeskanzler Olaf Scholz scheint in dieser Frage stur zu sein. Ich hoffe, dass Frankreich Mirage 2000-Kampfflugzeuge liefern wird", so der Analytiker.
Tenzer unterstützt auch die Idee, das Kapital der russischen Zentralbank einzufrieren. Dabei handelt es sich um eine Summe von 300 Milliarden Dollar, die seiner Meinung nach beschlagnahmt und zum Kauf wichtiger Waffen für die Ukraine verwendet werden sollte. „Das ist eine Menge Geld. Wir können eine Menge Waffen kaufen, die die Spielregeln wirklich ändern können. Wir müssen auch mehr tun, um die Umgehung von Sanktionen und die mangelnde Bereitschaft der EU zu Sekundärsanktionen zu beenden", so der Analyst abschließend.
PAP/ps