Deutsche Redaktion

"Zwei Reden, zwei Botschaften"

02.01.2024 13:19
Sowohl Premierminister Donald Tusk als auch Staatspräsident Andrzej Duda haben zur Jahreswende in Fernsehansprachen Bilanz gezogen. Was läßt sich aus beiden Ansprachen über das Zusammenleben der aus miteinander konkurrierenden politischen Lager stammenden parlamentarischen Mehrheit und des Staatsoberhaupts in den kommenden Monaten schlussfolgern? Was sollte Polen aus der verirrten russischen Rakete lernen, die am Freitag den polnischen Luftraum verletzte? Und: Wieso sind mehr Waffenlieferungen an die Ukraine auf längere Sicht keine Lösung? Die Einzelheiten in der Presseschau.
Premierminister Donald Tusk (l) und Prsident Andrzej Duda
Premierminister Donald Tusk (l) und Präsident Andrzej DudaFotophoto / Shutterstock.com; Grzegorz Jakubowski/KPRP

In Deutschland hat Bundeskanzler Scholz die Neujahrsansprache im Fernsehen gehalten. In Polen ist es zum Jahresumbruch indes gewissermaßen zu einem Fernduell zwischen Premierminister Donald Tusk und Staatspräsident Andrzej Duda gekommen. Die Rede des Premierministers ist am 30. und die des Staatspräsidenten am 31. Dezember ausgestrahlt worden.

Gazeta Polska Codziennie: Präsident kündigt Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit an

Erwartungsgemäß hebt die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie in der aktuellen Ausgabe die Ansprache des Staatspräsidenten hervor und feiert diese in ihrem Aufmacher als “Ankündigung der entschiedenen Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit”. Der Staatspräsident, lesen wir, habe die Versuche der neuen Regierung, mit Hilfe von Beschlüssen statt Gesetzen Änderungen zu forcieren, als verfassungswidrig kritisiert und betont, dass er sich solchen Handlungen widersetzen werde. Der Auftritt von Premierminister Donald Tusk, so das Blatt, sei indes relativ kurz, allgemein und substanzlos gewesen. Man habe nichts Neues erfahren, kontroverse Themen habe Tusk einfach ausgelassen. Weitere Konflikte auf der Linie Staatspräsident-Premierminister im kommenden Jahr seien unausweichlich, so Gazeta Polska Codziennie.

Gazeta Wyborcza: Was für eine Überheblichkeit!

In Bezug auf das Konfliktpotential auf der Linie Regierung-Präsidentenpalast sind sich die Gazeta Polska Codziennie und Agnieszka Kublik von der linksliberalen Gazeta Wyborcza einig. Und das wäre so ziemlich der einzige Konvergenzpunkt. Wie Kublik betont, habe Staatspräsident Duda der Regierungskoalition mit der Neujahrsansprache den Krieg erklärt. Während Konflikte weltweit unsere Sicherheit gefährden, von denen einer direkt an unserer östlichen Grenze tobe, lesen wir, habe der Staatspräsident mit drohender Miene diejenigen belehrt, die die Wahlen gewonnen hätten. All die Worte über Rechtsstaatlichkeit, so die Autorin, wären natürlich unheimlich wichtig. Allerdings unter der Voraussetzung, dass wir keinen Schimmer davon hätten, was in den letzten acht Jahren geschehen sei. Doch die Präsidentschaft von Duda werde für immer als schwarze Zeit für die polnische Demokratie in die Geschichtsbücher eingehen, in der der Staatspräsident die Verfassung selbst verletzt habe und zugelassen habe, dass andere dies ebenfalls tun. Er habe sich etwa kein einziges Mal dafür interessiert, dass der durch die PiS geschaffene Rat der Nationalen Medien ein verfassungswidriges Organ sei, das den Nationalen Rundfunkrat seiner in der Verfassung verankerten Kompetenzen beraubt, erinnert Kublik in der Gazeta Wyborcza.

Rzeczpospolita: Zwei Reden, zwei Botschaften 

Artur Bartkiewicz von der konservativ-liberalen Rzeczpospolita liest die Rede von Tusk in seiner Stellungnahme als Ansprache eines Politikers, der sich als politischer Sieger fühle und als solcher nun Frieden, Versöhnung und Ruhe wolle. Die Ansprache von Duda sei dagegen viel konfrontativer gewesen. Duda habe sich darin als Verteidiger der heutigen Opposition und ihrer Wähler positioniert. Aus seiner Sicht, so der Autor, signalisiere Duda damit seinen Einzug in das Spiel um eine Führungsrolle in der Vereinigten Rechten. Seine Position im konservativen Lager sei nach den Wahlen, nach denen die Recht und Gerechtigkeit das Regierungssteuer abgeben musste und begonnen habe, seine Hochburgen, wie das öffentliche Fernsehen und bald vielleicht auch den nationalen Justizrat zu verlieren, gewachsen. Duda habe noch anderthalb Jahre im Amt vor sich und die Kompetenzen des Staatspräsidenten würden ihm die Möglichkeit geben, Sand ins Getriebe der Regierungsmaschine zu streuen und damit bei der PiS-Wählerschaft systematisch zu punkten. 2025 werde Duda 53 Jahre alt sein. Damit werde er ein relativ junger und gleichzeitig erfahrener Politiker sein. Eine ideale Ausgangslage für den Kampf um das Erbe von Jarosław Kaczyński in der PiS. Und aus dieser Perspektive sollte man die Deklarationen in der Neujahrsansprache bewerten, so Bartkiewicz in der Rzeczpospolita. 

Rzeczpospolita: Marsch der Prostituierten zur Verteidigung der Keuschheit

Die Bataille um die öffentlichen Medien und die Proteste der PiS-Abgeordneten in den Gebäuden des öffentlichen Fernsehens fasst ebenfalls in der Rzeczpospolita der Publizist Jerzy Surdykowski unter dem vielsagenden Titel “Marsch der Prostituierten zur Verteidigung der Keuschheit” zusammen, in dem er die PiS mit der tragischen und gleichzeitig belustigenden Figur des bestohlenen Diebes vergleicht. Allerdings, so der Publizist, sei ihm persönlich nicht zum Lachen zumute. Denn wenn auf die Übernahme der Medien keine tiefer greifenden Reformen folgen, dann erwarte uns in vier oder acht Jahren ein ähnliches Spektakel, nur in die umgekehrte Richtung. Und das wäre fatal für die polnische Demokratie, so Surdykowski in der Rzeczpospolita.

Dziennik/Gazeta Prawna: Um 2 Minuten 59 Sekunden zu lang

Auch der russische Marschflugkörper, der am Freitagmorgen für 3 Minuten in den polnischen Luftraum eingedrungen ist, bleibt ein wichtiges Thema der Pressekommentare und Prognosen für 2024. Dieser konkrete Marschflugkörper war höchstwahrscheinlich nicht als Provokation gedacht, schreibt in seiner Analyse für Dziennik Gazeta Prawna der Publizist Zbigniew Parafianowicz. Das, so der Publizist, ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass die Rakete 2 Minuten und 59 Sekunden zu lange über Polen gewesen sei. Das Militär erkläre zwar, dass es den Marschflugkörper beobachtet hat, von dem Moment an, als er die Grenze überquerte, bis er Polen verließ. Doch, so Parafianowicz,  die Luftverteidigung sei nicht dafür da, Raketen zu beobachten, sondern dafür, um auf sie zu schießen. Selbst unter der optimistischen Annahme, dass die Raketen über Polen hinwegfliegen, müssen sie doch irgendwo landen. Zum Beispiel auf dem Dach eines Wohnblocks in Lwiw. Darüber hinaus deute alles darauf hin, dass es aufgrund des „Wahljahres“ 2024 in Russland deutlich mehr russische Raketenangriffe geben könnte. Die Behörden in Warschau dürfen nicht zulassen, dass in der Region Lubelszczyzna ein Luftkorridor für russische Marschflugkörper entsteht. Schon allein deshalb, weil über Ostpolen bereits ein anderer Luftkorridor bestehe – für die Zivilluftfahrt, für die Raketen wie die Ch-101 oder Ch-102, die sich mit der Reisegeschwindigkeit einer Boeing 737 bewegen, eine Bedrohung darstellen. 2024 dürfte es von ukrainischer Seite viele Versuche geben, die Position Putins zu untergraben. Und ebenso viele russische Gegenschläge, da Putin keine Schwäche zeigen könne. Polen müsse daher auf Querschläger vorbereitet sein, so Zbigniew Parafianowicz in Dziennik/Gazeta Prawna.

Dziennik/Gazeta Prawna: Die Ukrainer werden früher oder später verlieren

Eine düstere Prognose in Bezug auf den Krieg in der Ukraine formuliert in einem Gespräch für Dziennik/Gazeta Prawna der Geopolitik-Experte und Publizist Krzysztof Wojczal, der als einer der ersten in Polen den russischen Angriff auf die Ukraine 2022 prophezeit hatte. Leider, so Wojczal, würden die Ukrainer den Krieg früher oder später verlieren. Die Frage sei nur, wie lange sie standhalten und wie viele Verluste sie den Russen zufügen würden. Aus polnischer Sicht seien die Antworten auf diese Frage von enormer Bedeutung. Denn Polen habe in Punkto Aufrüstung und Modernisierung der Armee noch viel zu tun und sei erst am Beginn dieses Prozesses. Die Russen selbst würden indes deklarieren, dass sie die Ziele der “Spezialoperation” bis 2025 erreichen werden. Das sei für Russland eine sehr optimistische Annahme. Sie sollte uns jedoch stark beunruhigen und zu einer Beschleunigung der Bemühungen um eine Verbesserung der Wehrhaftigkeit führen. Und zwar des ganzen Staates, nicht nur der Armee. 

Wojczal weist in dem Interview zudem auf die Jahreswende 2024/2025 als Moment hin, an dem Russland sich für entschiedene militärische Schritte entscheiden könnte. Wenn Joe Biden die Wahlen verliere, würde die Zeit zwischen der Wahlniederlage und der Amtsübergabe für Putin eine Gelegenheit sein, den neuen US-Präsidenten vor vollendete Tatsachen zu stellen und Russlands Verhandlungsposition zu verbessern. Er sei daher der Meinung, dass Russland eine komplette Unterordnung von Belarus und seiner Armee planen könnte. Lukaschenko werde dies entweder akzeptieren müssen oder eliminiert werden. In einem weiteren Schritt könnte Putin eine weitere Offensive auf Kiew vorbereiten und diese durchführen, falls die Verhandlungen mit dem neuen US-Präsidenten nicht nach seinen Vorstellungen laufen. Besonders, wenn die Amerikaner in derselben Zeit mit einer Krise auf der Koreanischen Halbinsel zurechtkommen müssten. 

Er, so Wojczal, könne sich vorstellen, dass begrenzte Waffenlieferungen die Ukraine zu Friedensgesprächen zwingen und 2024 zu einer Art Waffenstillstand führen könnten. Er sei jedoch überzeugt, dass die Russen auch in einem solchen Fall die Ukraine 2025 oder 2026 zum dritten Mal angreifen würden. Er glaube, die Russen seien entschlossen, den Konflikt bis zu diesem Zeitpunkt nach ihren Vorstellungen zu beenden. Daher, so der Experte, sollte unsere wichtigste Frage lauten, was die NATO, die EU und der Westen tun sollten, um die Ukraine zu retten? Denn ohne unsere aktive Haltung würden die Ukrainer verlieren. Und Waffenlieferungen allein würden nicht ausreichen. Zum Kämpfen brauche man Menschen und davon habe Russland deutlich mehr. 

Was könnte die russische Armee also endgültig stoppen? Vielleicht sei seine Vorstellungskraft begrenzt, aber ihm falle nur eine Lösung ein, die Erfolg garantiere. Und zwar die Einführung von Friedenstruppen in den von Russland noch nicht besetzten Teilen der Ukraine. Die Schaffung eines Sanitärkorridors, der zumindest die Gebiete westlich des Dnjepr, einschließlich Kiew, umfasse. Die Stationierung eines solchen militärischen Potentials in der Ukraine – einschließlich der Luftwaffe – das die Russen aus Angst vor dem bloßen Potential der konventionellen Kräfte stoppen würde. Ein solches Szenario scheine heute politisch unvorstellbar, aber es sei notwendig, eine solche Diskussion zu beginnen. Denn seiner Meinung nach werde keine Überzeugung, keine neue Sanktion oder Hilfe für die Ukraine Putin stoppen. Für ihn zähle nur reale Macht, und diese Macht müsse demonstriert werden. Andernfalls erwarte uns ein zweiter Kalter Krieg, in dem die russische Armee entlang der gesamten polnischen Grenze stationiert sein werde, so Krzysztof Wojczal im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna.

Autor: Adam de Nisau