Deutsche Redaktion

Kontroverser Gnadenakt: Gerangel um Deutungshoheit geht weiter

09.01.2024 13:20
War der Gnadenakt des Präsidenten wirksam oder nicht? Sind die beiden noch Abgeordnete oder nicht? Wohl kein anderes Thema beschäftigt die polnische Öffentlichkeit dieser Tage so sehr wie der Streit rund um den Status und die Zukunft der verurteilten PiS-Politiker Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik. Gestern hatte das Amtsgericht in Warschau entschieden, dass der ehemalige Chef der Antikorruptionsbehörde und sein ehemaliger Stellvertreter in Haft müssen. Wenn sie diese Presseschau lesen, könnten die beiden also bereits im Gefängnis sein. Der Streit um die Richtigkeit des Urteils und der Haftstrafe dürfte damit, wie die heutigen Kommentare zeigen, aber noch lange nicht vorbei sein.
Policja otrzymała dokumenty z sądu nakazujące doprowadzenie Kamińskiego i Wąsika do aresztu
Policja otrzymała dokumenty z sądu nakazujące doprowadzenie Kamińskiego i Wąsika do aresztuPAP/Tomasz Gzell

Rzeczpospolita: Kamiński und Wąsik haben keine Mandate

Die linksliberale Gazeta Wyborcza feiert die Entscheidung zur Inhaftierung der beiden Politiker erwartungsgemäß als Triumph der Rechtsstaatlichkeit. Die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie spricht, ebenso erwartungsgemäß, von Anarchie und einer klaren Verletzung geltender Vorschriften. Und für beide Seiten des Konflikts ist die Rechtslage meistens “klar und eindeutig”. Wie für den ehemaligen Verfassungsrichter und Ombudsman für Bürgerrechte, Prof. Andrzej Zoll der in einem Gespräch für die konservativ-liberale Rzeczpospolita feststellt, dass Kamiński und Wąsik ganz klar keine Abgeordnetenmandate mehr haben und keinesfalls zur nächsten Parlamentssitzung zugelassen werden sollten. Die Mandate seien durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts in Warschau automatisch ausgelöscht worden. Sejmmarschall Hołownia habe dies nur offiziell verkündet. Und die Kammer für Außerordentliche Kontrolle des Obersten Gerichtshofs, die sich in dem Fall ausgesprochen habe, sei, wie der Europäische Gerichtshof bestätigt habe, kein unabhängiges Gericht und habe daher kein Recht gehabt, den Fall zu bewerten. Zudem habe der Oberste Gerichtshof auch keinen Einfluss auf das Mandat selbst. Er bewerte nur, ob der Sejmmarschall die Grundlage für seine Erklärung hatte. Die Mandate seien durch das Urteil des Amtsgerichts liquidiert worden. Und dieses könne zwar angefochten und geändert werden, aber nur durch eine Kassationsbeschwerde an die Strafkammer des OG, so Professor Andrzej Zoll. 

Gazeta Polska Codziennie: Skandal - Koalition des 13. Dezembers will Abgeordnete einsperren

Ebenso offensichtlich, wie für Prof. Zoll die Notwendigkeit einer Inhaftierung ist für den Disziplinarsprecher der ordentlichen Gerichte, Piotr Schab, den die nationalkonservative Gazeta Polska Codziennie um eine Stellungnahme gebeten hat, die Rechtswidrigkeit eines solchen Schritts. Wie das Blatt in dem Artikel betont, habe die Entscheidung über die Inhaftierung ein Mitglied des politisierten Verbands polnischer Richter “Iustitia” gefällt. Und Piotr Schab, der noch 2016 für die Bearbeitung des Falls mitverantwortlich war, vertrete, wie er im Kommentar für das Blatt erinnert, unter Berücksichtigung der Ansichten, Doktrin und Beispiele von Urteilen die Position, dass die Justiz nicht zur Verifizierung des präsidentiellen Gnadenakts berechtigt ist, der auch die Form einer individuellen Abolition annehmen könne. Das Verfassungsgericht habe dies in seinem Beschluss vom 2. Juni 2023 eindeutig bestätigt. Und der Staatsrichter Piotr Łukasz Andrzejewski fügt in seinem Kommentar für das Blatt hinzu, dass Personen, die Vollstreckungsentscheidungen für Urteile fällen, die man als nicht existent ansehen sollte, solche also, die keine rechtlichen Konsequenzen haben, damit rechnen müssen, disziplinär, strafrechtlich und verfassungsrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. 

Rzeczpospolita: Die Politik versucht, den Obersten Gerichtshof zu beeinflussen

Zu dem Vorwurf, dass es sich bei der Außerordentlichen Kontrollkammer des Obersten nicht um ein Gericht und bei den in ihr sitzenden “neuen” Richtern nicht um Richter im Sinne des europäischen Rechts sondern um eine “Gruppe von Menschen” handelt, äußert sich in einem Interview für die Rzeczpospolita die I. Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Małgorzata Manowska. Geht es nach Manowska, habe der EuGH die Beurteilung nur in Bezug auf die Frage vorgenommen, ob die Kammer Anträge im Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH schicken könne. Das Urteil betreffe also keine anderen Sphären. Die Beurteilung des Beschlusses des Sejmmarschalls zur Auslöschung der Mandate habe zudem nichts mit europäischem Recht zu tun. Das Urteil ändere also nichts an den Eigenschaften der Kammer, die direkt aus dem Gesetz über den Obersten Gerichtshof und dem Wahlkodex resultieren. Sich auf das Urteil zu beziehen, sei nicht berechtigt. 

Zudem habe kein internationaler Gerichtshof geurteilt, dass Richter, die nach 2018 ernannt worden seien, keine Richter seien. Im Gegenteil, 2019 habe der EuGH bestätigt, dass die Ernennung eines Richters durch den Staatspräsidenten unanfechtbar ist. Zudem müsse man noch eines in Betracht ziehen. Wenn jemand urteile, dass das polnische System von Richterernennungen nicht mit irgendeinem EU-Standard konform ist, müsse man einen solchen Standard erst einmal zeigen. Und einen solchen gebe es nicht. In EU-Staaten funktioniere etwa ein System, in dem Richter durch den Justizminister ernannt werden, der die Kriterien für die Beurteilung von Richtern festlegt. Und bei Personalmängeln können temporär Beamte als Richter fungieren. 2020 habe der EuGH festgestellt, dass dies unproblematisch und apolitisch ist. Würde er im Falle eines polnischen Richters dasselbe Urteil fällen? Wie solle also dieser Standard aussehen? Bei dessen Festlegung sollte man sich zuerst an die eigene Nase fassen, denn bis dato würden sowohl Richter des EuGH als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte direkt von Politikern ernannt, so Manowska.

Wenn es um den Sejmmarschall gehe, habe er, in Zusammenarbeit mit dem Vorsitzenden der Arbeitskammer den im Obersten Gerichtshof geltenden Umlauf von Dokumenten umgangen und versucht, die Richter der Außerordentlichen Kontrollkammer von der Bewertung des Falls abzuhalten. Es sei ein präzedenzloser Eingriff in die Kompetenzen des Obersten Gerichtshofs, der sich nicht rechtfertigen lasse und von der Arroganz der Regierenden zeuge. Weder der Sejmmarschall, noch der Vorsitzende eines Gerichts, noch ein Gericht habe die Kompetenz, die Effektivität der Ernennung von Richtern durch den Staatspräsidenten zu bewerten. Wenn wir die Rechtskräftigkeit von Urteilen davon abhängig machen, ob uns die Zusammensetzung des Spruchkörpers gefällt, werde dies einen totalen Verfall der Judikative bedeuten. Solche Spannungen in der Justiz habe es nicht einmal zwischen den durch die Kommunisten ernannten Richtern und die ersten nach der Wende ernannten Richtern gegeben, so Manowska. 

Okopress.pl: Manowska ist für das Chaos im OG verantwortlich

Apropos an die eigene Nase fassen. Dies sollte vor allem die I. Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs tun, bevor sie andere beschuldigt, schreibt in einer Analyse für das Portal Oko.press Mariusz Jałoszewski. Manowska, so der Autor, werfe dem Sejmmarschall und dem Vorsitzenden der Arbeitskammer des OG vor, den offiziellen Umlauf von Dokumenten ignoriert zu haben. Nun, der Marschall habe dies getan und die Dokumente direkt an die Arbeitskammer gesendet, da diese Kammer  - im Gegensatz zur Außerordentlichen Kontrollkammer - legal sei und sich vor den durch die PiS eingeführten Änderungen im OG mit solchen Fällen befasst habe. Der Direktor des Kabinetts von Hołownia habe die Dokumente also direkt an die Arbeitskammer weitergereicht, eben damit sie nicht in die Hände von Manowska gelangen. Und dies wäre passiert, wenn sie den offiziellen Weg gewählt hätten. Die illegale Kammer habe sich trotzdem eingeschaltet und entschieden, dass Wąsik und Kamiński weiterhin Abgeordnete sind, da der Staatspräsident sie 2015 begnadigt habe. Das Problem: Er habe dies nicht effektiv getan, was 7 Oberste Richter 2017 in einem Beschluss und dann 3 Oberste Richter in einem Urteil 2023 festgestellt hätten. Aus diesem Grund habe das Amtsgericht in Warschau ihren Strafprozess im Dezember 2023 zu Ende gebracht und sie für eine Aktion des Zentralen Antikorruptionsbüros CBA von 2007 zu 2 Jahren Haft verurteilt. 

In Ihrer Erklärung lasse die I. Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs all diese Argumente und viele weitere aus und mache sich Sorgen um das Image des Obersten Gerichtshofs. Zu diesem Thema sollte sie jedoch besser schweigen, denn sie sei in erster Linie für den Autoritätsverlust der Institution verantwortlich. Ihr Vorsitz werde von Beginn an von dem Vorwurf überschattet, dass sie illegal für den Posten nominiert worden ist. Die Vollversammlung der Obersten Richter 2020, bei der es zu der Wahl gekommen sei, sei ein politisches Theater der PiS gewesen, die das Gesetz zum Gerichtshof zuvor mehrmals geändert habe, um die Kontrolle über die Institution übernehmen zu können. Die Versammlung hätten Kommissare von Staatspräsident Andrzej Duda geleitet, sie habe ein paar Kandidaten gewählt, aus denen der Staatspräsident dann den Vorsitzenden herauspicken sollte. Seine Wahl sei auf die ehemalige Vertreterin von Justizminister Ziobro gefallen, also eben auf Manowska, obwohl sie unter den Obersten Richtern keine große Unterstützung gehabt habe. Die Kandidatur von Prof. Włodzimierz Wróbel, der als einziger die Mehrheit der Richter auf seiner Seite gehabt habe und unter normalen Umständen zum I. Vorsitzenden gewählt worden wäre, sei ignoriert worden. Aus diesen Gründen könne man die Legalität der Wahl von Manowska in Frage stellen. Und der Vorsitzende der Arbeitskammer sei der letzte legale Vorsitzende einer Kammer des Obersten Gerichtshofs, der unabhängige Richter verteidige und keinen Hehl daraus mache, was er von Manowska halte. Daher bekämpfe ihn die I. Vorsitzende auch mit allen Mitteln, so Mariusz Jałoszewski in Oko.press.

Autor: Adam de Nisau