Gazeta Wyborcza: Eine Handvoll Wähler entscheidet über die Zukunft der Welt
Noch nie hing so viel von so wenigen ab. Die aktuelle Situation und das Gefühl der Hilflosigkeit erinnern ihn an diese Worte von Winston Churchill, schreibt in seinem Kommentar für die linksliberale Gazeta Wyborcza Bartosz Wieliński. Was die nahe Zukunft für die westliche Welt, einschließlich Polens, bereithalte, so der Autor, werde von einer Handvoll Wähler in einigen wenigen amerikanischen Bundesstaaten entschieden. Vor vier Jahren seien Arizona und Georgia von Joe Biden mit einer Mehrheit von nur 10 000 Stimmen gewonnen worden. Und nach den jüngsten maßgeblichen Umfragen würden bei der entscheidenden Wahl in Pennsylvania der ehemalige republikanische Präsident Donald Trump und die amtierende demokratische Vizepräsidentin Kamala Harris Kopf an Kopf liegen. Der Wahlausgang könnte also von noch weniger Menschen entschieden werden als im Jahr 2020. Es sei fast so, als ob die Wahl durch den Wurf einer Münze entschieden würde, so Wieliński.
Was wissen die Bewohner des amerikanischen "Rostgürtels" über Europa?, fragt Wieliński. Über die verbrecherische russische Invasion in der Ukraine, die seit fast drei Jahren andauert, über die russischen Operationen rund um die Wahlen in Moldawien und Georgien, über die Lagerstätten für russische Atomsprengköpfe im Königsberger Gebiet und in Weißrussland, über den russischen hybriden Krieg, der auf NATO-Gebiet geführt wird? Er, so Wieliński, fürchte, nicht viel; schließlich seien die Außenpolitik und das Engagement der USA in der Welt Themen, die bei dieser Wahl keine große Rolle gespielt hätten. Aber es sei unsere Region, die von den Entscheidungen der amerikanischen Wähler betroffen sein werde.
Wieliński erinnert daran, dass Trump bereits in der Vergangenheit die Bedeutung der NATO infrage gestellt hat und nun keinen gemäßigten Vizepräsidenten wie Mike Pence an seiner Seite habe. Stattdessen stehe ihm JD Vance zur Seite, der noch schärfer formuliere: Sicherheit ja, aber nur für diejenigen, die dafür zahlen— natürlich an die USA. All das würde mit Vances Ideen für das Ende des Kriegs in der Ukraine einhergehen, die sich mit den Forderungen Putins decken: die Abtretung der von Russland besetzten ukrainischen Gebiete, die erzwungenen Neutralität Kiews und die Übertragung der Kosten für den Wiederaufbau der Ukraine auf Europa. Dies würde für Polen und andere Länder in der Region eine ernsthafte Bedrohung darstellen, da Russland Zeit gewinnen würde, seine Stärke wiederzuerlangen und sich auf eine weitere Invasion vorzubereiten.
Trumps Niederlage? Er fürchte, dass er diese nicht anerkennen und das Wahlergebnis weitaus effektiver anfechten würde als noch vor vier Jahren. Es sei ihm gelungen, eine Masse von Anhängern und eine politische Basis aufzubauen. Er habe auch die Unterstützung des Milliardärs Elon Musk, der über seine eigene X-Plattform Trump-Propaganda verbreite. “Ich fürchte, wenn die Stimmen ausgezählt sind, droht Amerika nicht eine Wiederholung des Angriffs des Pöbels auf das Kapitol, sondern eine Rebellion. Es kommen unruhige Zeiten auf uns zu. In Polen, in Europa, können wir nur hilflos zusehen”, so Bartosz Wieliński in der Gazeta Wyborcza.
Dziennik Gazeta Prawna: Europa ist nicht bereit für eine Trennung
Ein Teil der EU-Politiker sieht in der durch Wieliński beschriebenen Gefahr eine Chance.
“Manche behaupten, die Zukunft Europas hänge von den amerikanischen Wahlen ab, obwohl sie in Wirklichkeit vor allem von uns abhängt. Vorausgesetzt, Europa wird endlich erwachsen und glaubt an seine Stärke. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, die Zeit des geopolitischen Outsourcings ist vorbei”, so habe Premierminister Donald Tusk vor einigen Tagen die bevorstehende Abstimmung kommentiert, erinnert in einer Analyse für das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna der Publizist Marceli Sommer. .
Tusk, so der Autor, sei mit dieser Haltung in Europa nicht allein. Unabhängig vom endgültigen Urteil der amerikanischen Wähler, lesen wir, werde die Konsolidierung von Donald Trumps Macht über das republikanische Lager als immer größeres Risiko für die transatlantischen Beziehungen angesehen—nicht nur im Bereich der Verteidigung. Für viele europäische Hauptstädte sei dies das endgültige Argument für die Notwendigkeit, eine "strategische Autonomie" der Europäischen Union aufzubauen—als Block, der zur Selbstverteidigung fähig sei, aber auch zur eigenständigen Entwicklung ohne "besondere Beziehung" zu den Vereinigten Staaten.
Daher würden sich, laut dem Portal Politico, viele europäische Diplomaten über einen Sieg Trumps freuen—gewissermaßen als einen "heilsamen Schock", der die EU zwingen würde, ihre gemeinsame Verteidigungs- und Industriepolitik zu stärken. Benjamin Haddad, der französische Minister für europäische Angelegenheiten, habe Ende Oktober betont: "Die Europäer müssen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen, unabhängig davon, wer zum Präsidenten der USA gewählt wird."
Das Problem dabei sei jedoch, dass eine solche Eigenständigkeit, von der einige EU-Führer träumen, über Jahre hinweg aufgebaut wird, und die letzten Jahre einen gegenteiligen Trend gezeigt haben. Zwei Säulen der EU-Wirtschaftsstrategie—die "Derussifizierung" im Bereich der Energierohstoffe und der Versuch, die Position in strategischen Industriesektoren, die stark von China dominiert werden, wieder aufzubauen—hätten zu einer erhöhten Bedeutung der USA als Partner geführt.
Die USA hätten Russland als größten Lieferanten von Öl und Ölprodukten für die EU-Länder ersetzt. Sie hätten auch ihren Anteil am europäischen Erdgasmarkt mehr als verdreifacht—für viele Länder des alten Kontinents sei dies ein entscheidender Brückenbrennstoff für die Energiewende. So habe zum Beispiel Polen gerade das bisher größte Gaskraftwerk Dolna Odra in Betrieb genommen und damit das bestehende Potenzial zur Versorgung mit diesem Brennstoff um über ein Viertel erhöht.
Ohne wirtschaftliche Partnerschaft mit den USA sei es auch schwer vorstellbar, dass Europa eine eigenständige Position gegenüber Peking im Technologiebereich aufbauen kann, einschließlich in Schlüsselbranchen für die Energiewende wie Photovoltaik, Windenergie, Elektromobilität, Energiespeicherung oder Kernenergie. Andrzej Sikora, Leiter des Instituts für Energiestudien, bewertet: "Im Energiebereich ist eine Trennung Europas von den USA heute undenkbar. Natürlich können und sollten wir langfristig die Lieferungen weiter diversifizieren oder den Bedarf an fossilen Brennstoffen senken. Solange die EU-Wirtschaft jedoch ein großer Verbraucher dieser Brennstoffe bleibt, ist eine Abkopplung vom weltweit größten Exporteur von Öl und Gas unrealistisch. Besonders wenn wir uns nicht der Gnade und Ungnade von Lieferanten aus Russland und dem Persischen Golf aussetzen wollen."
Sikora weist darauf hin, dass die EU mit dem Risiko einer Verschärfung der Handelsbeziehungen mit den USA rechnen muss, zumal die Union nicht den Status eines privilegierten Handelspartners der Vereinigten Staaten genießt. Er bezweifelt zwar, dass die amerikanische Administration sich entscheiden würde, die Europäer von Kraftstofflieferungen abzuschneiden, insbesondere im Szenario einer Produktionssteigerung, wie sie von Donald Trump angekündigt wurde. Das bedeute jedoch nicht, dass sich die Union völlig sicher fühlen könne und dass der Import aus dieser Richtung unter allen Umständen stabil und sicher sein werde.
Dziennik Gazeta Prawna: Es gibt keine Alternative zu den transatlantischen Beziehungen
In der Europäischen Kommission treffe sich bereits seit einigen Wochen täglich eine Arbeitsgruppe aus hochrangigen Beamten, um Reaktionsszenarien für den Fall eines Trump-Sieges und radikaler Schritte seinerseits auszuarbeiten, schreibt Mateusz Roszak, ebenfalls in Dziennik/Gazeta Prawna. Zu diesen potenziellen Maßnahmen würden die Verhängung zusätzlicher Zölle auf aus der EU importierte Waren, die Beendigung der Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland oder sogar die Aufhebung der gegen Russland verhängten Sanktionen zählen.
Neben den Treffen der Arbeitsgruppe führe das Team von Ursula von der Leyen auch direkte Gespräche mit den EU-Botschaftern, um eine Strategie zu entwickeln. Wahrscheinlich werde es zunächst eine Art Wirtschaftsabkommen mit den USA sein—Brüssels Ziel sei es, so schnell wie möglich auf mögliche Maßnahmen Trumps zu reagieren. Im Falle eines Sieges von Harris sei das europäische Establishment beruhigt und sehe keine Notwendigkeit, die Beziehungen neu zu gestalten.
Der einzige EU-Staatschef, der auf Trumps Wohlwollen zählen könne, sei derzeit der ungarische Premierminister Viktor Orbán. Unabhängig von den Unterschieden innerhalb der Mitgliedstaaten werde die EU—so schätzt auch der Experte des Polnischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (PISM Melchior Szczepanik—nicht in der Lage sein, die USA in politischer und wirtschaftlicher Bedeutung zu ersetzen, falls es während einer Präsidentschaft des Republikaners zu einer Verschlechterung der Beziehungen kommt. "Die EU hat keine Alternative zur Partnerschaft mit den USA", so Szczepanik im Gespräch mit Dziennik/Gazeta Prawna.
Autor: Adam de Nisau