Rzeczpospolita: Mit Hoffnung auf die Zukunft, aber ein verlorenes Jahr
Unternehmer kommentieren die Bilanz des ersten Jahres der Regierung von Donald Tusk zurückhaltend: Sie sprechen von „leichter Enttäuschung“ und „Hoffnung“. Die Wirtschaft hatte sich mehr erhofft, schätzt aber einige Erfolge dieses Kabinetts, insbesondere die Freigabe der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds, lesen wir im Aufmacher der konservativ-liberalen Rzeczpospolita.„Es ist nicht ideal, aber auch nicht so schlecht, wie es hätte sein können“, sagt Łukasz Bernatowicz, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Business Centre Club.
Zuvor, so die Zeitung, habe die Wirtschaft fast zwei Jahre vergeblich auf die Freigabe der EU-Gelder gewartet. Zu den positiven Aspekten würden die Unternehmer unter anderem auch die „ZUS-Ferien“ (Sozialversicherungsurlaub) oder die Befreiung von Krankenversicherungsbeiträgen beim Verkauf von Anlagevermögen sowie die Erhöhung der Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit zählen. Gleichzeitig merken Gesprächspartner der „Rzeczpospolita“ an, dass die Gelder aus Rüstungsprogrammen größtenteils an ausländische Hersteller fließen und die polnische Industrie davon leider wenig profitiert.
Doch es gebe auch weitere nicht zu vernachlässigende Wermutstropfen.
„Leider überwiegen die Minuspunkte die Pluspunkte“, sagen Vertreter von Unternehmerorganisationen. Sie nennen etwa das Ausbleiben der Rücknahme der von der Vorgängerregierung eingeführten Steuerreform. Zudem würden auch eine Erhöhung des steuerfreien Betrags und die versprochenen Änderungen bei den Krankenversicherungsbeiträgen fehlen. Ein weiterer Minuspunkt sei der Mangel an Investitionen im Energiesektor, was bei den polnischen Energiepreisen – die zu den höchsten in Europa gehören – die Wettbewerbsfähigkeit heimischer Unternehmen mindere.
Unternehmer beklagen auch das Fehlen eines Wirtschafts-Vizepremiers, der die wirtschaftlichen Themen in der Regierung koordinieren und als Gesprächspartner für sie agieren könnte. „Wir werden der Regierung “Karten auf den Tisch‘ sagen können, wenn im Präsidentenpalast jemand sitzt, der bereit ist, mit ihr zusammenzuarbeiten“, erklären die Unternehmer.
Gemischte Gefühle hätten auch Ökonomen, die die Arbeit von Finanzminister Andrzej Domański bewerten. Statt eine umfassende Vision oder Strategie vorzustellen, habe er die bisherige Politik fortgesetzt. Kontinuität möge nicht schlecht sein, aber angesichts der aktuellen Probleme der Wirtschaft und der Finanzen sei das deutlich zu wenig.
„Ein Finanzminister sollte der böse Polizist sein, der versucht, die Ausgabenfreude der Kollegen aus der Regierung oder dem Sejm zu bremsen“, bemerkt ein Analyst. „Letztlich ähnelt seine Rolle der eines Buchhalters oder Finanzdirektors, der bei einer Vorstandssitzung klar sagt: ‚Wir haben kein Geld dafür, und wie zahlen bereits jetzt immer höhere Zinsen für die Schulden aus euren früheren dummen Ideen oder denen eurer Vorgänger.‘“
Und obwohl der Leiter des Finanzressorts angeblich viele kostspielige Vorschläge seiner Kollegen torpediert, ist dieses Kabinett von finanzieller Disziplin weit entfernt, so die Rzeczpospolita.
Gazeta Polska Codziennie: Ein Jahr der Zerstörung des Staates
Jacek Lizinkiewicz von der nationalkonservativen Gazeta Polska Codziennie zeichnet in seiner Analyse zum Thema indes eine apokalyptische Vision des ersten Jahres der Regierung Tusk. Vor einem Jahr, lesen wir in dem Artikel, sei die dritte Regierung von Donald Tusk vereidigt worden. Sie habe die meisten ihrer Versprechen nicht erfüllt. Zudem könne sie sich mit folgendem „rühmen“: dem größten Haushaltsdefizit in der Geschichte Polens, sinkenden Steuereinnahmen, der "faktischen Abschaffung öffentlicher Medien" und dem Stopp der größten Investitionen (gemeint ist unter anderem der Zentrale Kommunikationshafen CPK). In den letzten zwölf Monaten, so der Autor, in Anspielung an die Verhaftung der PiS-Abgeordneten Wąsik und Kamiński, die aus Sicht des Obersten Gerichtshofs inkorrekt von Staatspräsident Duda begnadigt worden waren, seien in Polen erneut "politische Gefangene, Folter, Polizeigewalt und eine Atmosphäre der Angst" aufgetaucht. "Politische Säuberungen" hätten nicht nur Medien und Ämter, sondern auch Hochschulen betroffen, zählt der Autor auf.
Das erste Regierungsjahr von Donald Tusk sollte eine Phase der Reinigung und großen Ordnung sein, so der Autor. „Gebt mir 400 Tage nach den Wahlen, und ich werde mit eiserner Hand Ordnung schaffen. Danach sollen Menschen übernehmen, die mildere Ziele verfolgen“, habe Donald Tusk am 4. Mai 2022 in Lublin gesagt. Doch nach 365 Tagen an der Macht versinkt Polen statt in Ordnung im Chaos, so Jacek Lizinkiewicz in der Gazeta Polska Codziennie.
Dziennik/Gazeta Prawna/RMF FM/ Super Express/Rzeczpospolita: Lebensstandard nicht deutlich anders
Laut dem Großteil der Polen hat das erste Regierungsjahr für sie nicht viel verändert. Laut einer Erhebung für RMF FM und „Dziennik Gazeta Prawna“ geben 13,6 Prozent der Befragten an, es gehe ihnen heute besser als vor einem Jahr. 37,5 Prozent empfinden ihre Lage als schlechter, während 46,8 Prozent keinen Unterschied feststellen.
Allerdings spiegelt sich in den Umfragen auch die Polarisierung der politischen Szene wider. Unter den Anhängern des aktuellen Regierungslagers glauben 69,1 Prozent, dass sich nichts verändert hat, 24,7 Prozent berichten von einer Verbesserung, und nur 6,2 Prozent von einer Verschlechterung.
Die Befürworter der Opposition (PiS, Konfederacja und Razem) sind deutlich kritischer: Lediglich 1 Prozent von ihnen sieht eine Verbesserung, dafür sagen 68,5 Prozent, dass es ihnen nun schlechter geht. 30,6 Prozent dieser Gruppe verspüren keine Veränderung.
Eine weitere Umfrage im Auftrag von „Super Express“ kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Hier sagen 44 Prozent, sie lebten schlechter als vor der Machtübernahme 2023, 36 Prozent stellen keine Veränderung fest, und 14 Prozent berichten von einer Verbesserung.
Der Regierungskoalition, so die Rzeczpospolita, unter Berufung auf eine Umfrage von More in Common Polska, sollte allerdings zu denken geben, dass aktuell die meisten jungen Menschen, 26 Prozent, für die rechtskonservative Konfederacja stimmen würden. Die Bürgerkoalition folgt mit deutlichem Abstand und 15 Prozent Zustimmung.
Die „Rzeczpospolita“ betont, dass die KO im Wahljahr 2023 von der Mobilisierung junger Menschen profitierte, um den Sieg im Sejm und Senat zu erringen. Jedoch zeigen neuere Daten des Instituts Opinia24 eine zunehmende Demobilisierung junger Frauen: Zwar favorisieren viele von ihnen nach wie vor die KO, doch bereits 30 Prozent wissen nicht mehr, für wen sie stimmen würden. Die Zeitung interpretiert diese Ergebnisse als Zeichen dafür, dass junge Wählerinnen von der KO enttäuscht sind, da deren Wahlversprechen in Bezug auf Frauenrechte bisher nicht umgesetzt wurden.
Rzeczpospolita: Polarisierung als größte Herausforderung
Ein Jahr nach der Vereidigung von Donald Tusk spüren selbst die Regierenden eine gewisse Unzufriedenheit, meint der Chefredakteur der Rzeczpospolita, Michał Szułdrzyński. Die Botschaft „Es liegt noch viel vor uns!“, die in den sozialen Medien verbreitet werde, fasse die Stimmung anlässlich dieses Jubiläums treffend zusammen. Es wäre unfair zu behaupten, Tusk habe keine Versprechen eingehalten, doch ebenso falsch wäre es zu sagen, er habe alle erfüllt.
Das schwerwiegendste Versäumnis, so der Autor, sei die bislang nicht eingelöste Zusage einer nationalen Versöhnung. Es gehe nicht um gestenreiche Versöhnungsakte, sondern um ein grundlegendes Anliegen: die Sicherung des existenziellen Zusammenhalts des Staates. Die tiefe Polarisierung führe zu wachsendem Misstrauen – gegenüber dem Staat, seinen Institutionen und den Medien.
Zwar habe die vorherige PiS-Regierung viel zu dieser Polarisierung beigetragen, doch der aktuellen Koalition sei es bisher nicht gelungen, diesen Trend umzukehren. Ein gespaltenes und misstrauisches Gesellschaftsgefüge mache Polen schwächer und anfälliger für externe Einflussnahmen, wie das Beispiel Rumäniens zeige, das Opfer einer gut organisierten Desinformationskampagne geworden sei. Länder wie Dänemark, wo das Vertrauen in Institutionen und traditionelle Medien höher sei, seien deutlich resistenter gegen solche Operationen.
Tusk stehe vor einem schwierigen Dilemma: Die politische Logik spreche dafür, die Polarisierung zu vertiefen, um die Präsidentschaftswahlen zugunsten der Koalition zu gewinnen. Doch diese Polarisierung schwäche die Gesellschaft und mindere ihre Widerstandskraft gegen hybride Angriffe und Desinformationskampagnen, so Michał Szułdrzyński in der Rzeczpospolita.
Autor: Adam de Nisau