Deutsche Redaktion

"Fundamentale Wende in der Außenpolitik"

13.02.2024 13:03
Die gestrige Doppelvisite von Premierminister Donald Tusk in Paris und Berlin ist ein wichtiges Thema der heutigen Pressekommentare. Vor allem im Fokus ist dabei die Deklaration des polnischen Regierungschefs, dass Europa auch selbst wehrhafter werden und eigene Projekte in diesem Bereich vorantreiben muss.
Premier Tusk: bardzo serio traktuję słowa prezydenta Macrona.
Premier Tusk: bardzo serio traktuję słowa prezydenta Macrona.@PremierRP/X

Rzeczpospolita: Fundamentale Wende in der Außenpolitik

Es sei eine fundamentale Wende in der polnischen Außenpolitik, schreibt dazu die konservativ-liberale Rzeczpospolita auf ihrer Titelseite. Die französischen Staatschefs, lesen wir, würden seit siebzig Jahren wie ein Mantra wiederholen, dass der alte Kontinent fähig sein muss, sich selbstständig zu verteidigen, auch wenn in Partnerschaft mit den USA. Polen habe jedoch bisher als das transantlantischste Land der EU gegolten. Alle Versuche, eine europäische Verteidigung aufzubauen, seien in Warschau mit Skepsis aufgenommen worden, als Mittel zur Schwächung der NATO. “Polen befürwortet eine europäische Verteidigungsunion, ihre Zeit ist gekommen”, habe nun, nach dem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Deutschland und Frankreich in Paris, Polens Außenminister Radosław Sikorski erklärt. 

Mit der Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks beende die polnische Regierung endlich die toxische Abhängigkeit von der Visegrad-Gruppe, schreibt in ihrem Kommentar zu der Visite die Publizistin Anna Słojewska. Und hat damit die Chance, in die europäische erste Liga aufzusteigen. Denn dieser “Weimarer Vektor”, auch wenn zweifellos am wichtigsten, sei nicht der einzige. Zudem arbeite Polens Diplomatie, was aus den ersten Aussagen Tusks hervorgehe, auch an einem batisch-nordischen Vektor. Am Rande seines ersten EU-Gipfels als Premierminister habe sich Tusk mit den Anführern ebendieser Länder getroffen. Er habe auch ein Treffen in einem ähnlichen Kreis in Tallin geplant, das jedoch wegen der Covid-Erkrankung der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas geplatzt sei. Das Format solle zugleich proukrainisch sein. Denn, obwohl heute alle in der EU, außer Ungarn, eine Unterstützung Kiews befürworten, sei die aggressive russische Politik vor allem für diese Staaten eine existentielle Bedrohung. Schließlich könne man auch den Visegrad-Vektor nicht ganz vernachlässigen, vielleicht in Verbindung mit Rumänien und Bulgarien. Allerdings nur in wirtschaftlichen Themen, wo es viele gemeinsame Interessen gebe. In Sicherheitsfragen sollte man indes besser nichts mit Viktor Orban und dem slowakischen Regierungschef Robert Fico zu tun haben, so Anna Słojewska in der Rzeczpospolita. 

Dziennik/Gazeta Prawna: Musketiere ohne Degen

Weniger optimistisch sieht die Lage der Publizist von Dziennik Gazeta Prawna, Mateusz Roszak. Europa, erinnert der Autor, habe die Signale von den USA über das Risiko eines konventionellen Kriegs von russischer Seite systematisch ignoriert. Die Stimmen der Staaten der NATO-Ostflanke, vor allem derjenigen, die ein halbes Jahrhundert unter russischer Besatzung oder hinter dem Eisernen Vorhang gelebt hätten, seien wie ein lästiges Hindernis betrachtet worden, das den freien Handel mit dem Kreml beeinträchtige. Und genau diese Mentalität sei es, die ein wehrloses, lethargisches und, ohne amerikanische Hilfe, zu schnellen Reaktionen unfähiges Europa nach sich gezogen habe.  

In diesem Kontext würden auch die gestrigen Worte Macrons über die Notwendigkeit, der Ukraine Munition zu liefern und das europäische Potential in der Munitionsproduktion auszubauen, wie ein düsterer Scherz klingen. Genau vor einem Jahr hätten die EU-Staaten deklariert, dem ukrainischen Militär bis Ende März dieses Jahres eine Million Stück Artilleriemunition zu schicken. Heute würden wir wissen, dass dieses Ziel ungefähr zu 50 Prozent realisiert werde - etwa 530 Tausend hätten die “27” aus eigenen Ressourcen und gemeinsamen Einkäufen zusammengeklaubt. Nordkorea habe solche Probleme offenbar nicht gehabt. Gehe es nach dem ukrainischen Geheimdienst, sei Pjönjang in der Lage gewesen, Russland etwa eine Million Artilleriegeschosse zur Verfügung zu stellen. Und wir würden gerade mal von einem Staat der Satrapie-Achse sprechen. 

Daher sei es auch gut, dass Tusk, statt seine Tirade gegen die Republikaner fortzusetzen, die Milliardenhilfen für die Ukraine blockieren, die EU-Staaten zur Mobilisierung rund um die Sicherheit und Entwicklung des militärischen Potentials des Alten Kontinents aufgerufen hat. Die bisherigen Versuche, gemeinsame Verteidigungs-Initiativen voranzubringen, seien im Sand verlaufen, auch da Frankreich sie vor allem rund um das Potential der eigenen Rüstungsindustrie aufbauen wollte. Der Appell Tusks an die EU, statt weiterer Kritik an den USA, sei zutreffend. 

Denn das einzige bedeutende EU-Projekt in diesem Bereich sei der Europäische Verteidigungsfonds, für den für die Jahre 2021–2027 aber nur 8 Milliarden Euro vorgesehen seien – das sei 1 Milliarde Euro weniger, als Deutschland allein für die Aufrüstung der Ukraine seit Beginn der Invasion ausgegeben habe. Eine Erhöhung der Ausgaben müsse jedoch auf nationaler Ebene erfolgen, und das könne schwierig sein, insbesondere angesichts der bevorstehenden Europawahlen, des Kampfes gegen die Inflation, der Überprüfung der grünen Transformation und der Massenproteste der Landwirte, mit denen sich heute die meisten Regierungen auseinandersetzen. Wenn es nicht gelinge, die europäischen Gesellschaften zu einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu überzeugen, werden den EU-Führern ohne Degen nur die Flucht unter den amerikanischen Mantel und der Ruf "Einer für alle, alle für einen" bleiben, so Mateusz Roszak in Dziennik/Gazeta Prawna.

Dziennik Gazeta Prawna: NATO wird immer stärker

Die Worte Trumps, die unter anderem die europäische Wehrhaftigkeit wieder in den Vordergrund gerückt haben, fallen paradoxerweise in einem Moment, in dem die NATO eine Rennaissance erlebt, das Wirtschaftsblatt Dziennik Gazeta Prawna auf seiner Titelseite. Das Bündnis werde, wie die Zeitung erinnert, im Juni einen neuen Generalsekretär wählen. Laut Quellen des Blattes gebe es politischen Konsens dazu, dass der ehemalige Premierminister Hollands, Mark Rutte, den Posten übernimmt. 

Obwohl kein Land einen solchen Sprung in den Ausgaben gemacht habe wie Polen, das im Jahr 2023 weit über 3 Prozent seines BIP für Verteidigung aufgewendet habe, würden die Ausgaben bündnisweit generell steigen. Laut Schätzungen der NATO hätten im Jahr 2023 11 von 31 Mitgliedsstaaten mehr als 2 Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgegeben, und weitere 7 mindestens 1,7 Prozent des BIP. Besonders sichtbar sei dieser Anstieg der Ausgaben in Staaten der NATO-Ostflanke. Nominal würden allerdings immer noch fast 70 Prozent der Ausgaben aller Mitgliedsstaaten von den USA stammen. "Im Vergleich zu vor fünf Jahren ist die NATO in einer deutlich besseren Verfassung", sagt der Leiter des Büros des German Marshall Fund in Warschau, Michał Baranowski, im Gespräch mit dem Blatt. Wie er betont, hat die NATO infolge des Krieges detaillierte Verteidigungspläne sowohl für den Norden Mitteleuropas als auch für die Regionen des Mittelmeers und des Schwarzen Meeres ausgearbeitet. Solche Dokumente seien seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr aktualisiert worden. Zudem hätten gerade die Übungen Steadfast Defender-24 begonnen, bei denen diese Pläne in der Praxis überprüft werden sollen. Es seien die größten Manöver des Bündnisses seit 1988, so Dziennik/Gazeta Prawna. 

Autor: Adam de Nisau