Gazeta Wyborcza: Ende der Einteilung in ein besseres und schlechteres Europa. Wirklich?
Im Internet kursiert ein Foto, schreibt dazu der Publizist der linksliberalen Gazeta Wyborcza, Bartosz Wieliński. Aufgenommen im sechsten Stock des Bundeskanzleramts in Berlin, lesen wir, zeige es am Fenster mit Blick auf den Reichstag den US-Präsidenten Joe Biden, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premierminister Keir Starmer und den Gastgeber, den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Thema der Gespräche sei, wie Wieliński erinnert, die Unterstützung der Ukraine im Abwehrkampf gegen die russische Invasion gewesen. Und die Tatsache, dass auf dem Foto kein Vertreter Polens zugegen gewesen sei, sorge auch bei westlichen Experten für Verwunderung.
Er, so Wieliński, habe dazu EU-Diplomaten befragt und verschiedene Erklärungen erhalten. Die erste klinge, wie folgt: das Treffen habe im Format der sogenannten Ramstein-Gruppe stattgefunden, der Kontaktgruppe zur Verteidigung der Ukraine, deren Vertreter sich auf dem Gelände des US-Luftwaffenstützpunkts Ramstein in Deutschland treffen. Wie Wieliński erinnert, sollte das Treffen am 12. Oktober stattfinden, aber Biden habe wegen eines Hurrikans in den USA abgesagt und sich dann überraschend entschieden, eine Woche später zu kommen. Polen werde in der Ramstein-Gruppe von Präsident Andrzej Duda vertreten, aber zum Treffen in Berlin seien nur diejenigen eingeladen gewesen, die direkten Einfluss auf die Außenpolitik haben.
Zweite Erklärung: Bidens Besuch habe Berlin unerwartet getroffen. Ursprünglich sollte Scholz nur Keir Starmer empfangen; Macron habe sich in letzter Minute selbst hinzugeladen. Als es bereits zu spät gewesen sei, habe man eilig den polnischen Botschafter Jan Tombiński angerufen. Es habe keine böse Absicht gegeben, sondern eher Chaos und sogar Amateurhaftigkeit seitens der deutschen und amerikanischen Diplomatie.
Es gebe auch eine dritte Erklärung: Zwischen Scholz und dem polnischen Premierminister Donald Tusk stimme die Chemie nicht; sie würden sich gegenseitig meiden. Beim letzten EU-Gipfel und dem Treffen der Westbalkan-Staaten in Berlin sei Polen nicht vom Premierminister, sondern vom Außenminister Radosław Sikorski vertreten worden.
Das Ergebnis jedenfalls sei sehr negativ. Es sei ein Signal in die Welt gesendet worden, dass Europa, obwohl es beispiellosen Krisen gegenüberstehe, weiterhin in einen besseren und einen schlechteren Teil gespalten ist. Und dass der alte Westen über Angelegenheiten entscheiden will, die neue EU- und NATO-Länder direkt betreffen, ohne sie einzubeziehen.
Wieliński widerspricht der Meinung, die er in sozialen Medien gelesen hat, dass es gut sei, dass Scholz und Biden den Polen gezeigt haben, wo ihr Platz ist, damit sie keine Illusionen über das Gewicht ihrer Stimme haben.
Polen sei das fünftgrößte Land der EU und die 21. größte Volkswirtschaft der Welt und dürfe nicht ignoriert werden. Diskussionen über die Zukunft der Ukraine ohne Polen machen keinen Sinn, da ohne Polen, dem Schlüsselland an der östlichen Flanke der NATO, kein sicherheitsrelevantes Problem des Bündnisses gelöst werden kann. Die Spaltung Europas, selbst infolge von Eile und mangelnder Vorbereitung, ist ein Fehler, der sich rächen wird, so Bartosz Wieliński in der Gazeta Wyborcza.
Rzeczpospolita: Des Kaisers neue Kleider in Berlin
Wo Bartosz Wieliński Chaos als Erklärung zulässt, sieht der Politologe und Philosoph Marek A. Cichocki Absicht. Trotz der Bemühungen von Bundeskanzler Olaf Scholz, so der Autor in seinem Kommentar für die konservativ-liberale Tageszeitung Rzeczpospolita, sei Deutschland in den letzten Jahrzehnten nie so schwach in Europa gewesen wie heute. Das von Scholz inszenierte Spektakel der Großmächte in Berlin anlässlich des Besuchs von US-Präsident Joe Biden, lesen wir, habe an eine Zeitreise erinnert. Man habe sich in Gedanken zurück in die Zeiten nach dem Ende des Kalten Krieges versetzen können, als die Welt im Namen des Westens von Washington gemeinsam mit London, Paris und Berlin regiert wurde.
Es, lesen wir weiter, sei unmöglich, dieses Treffen nicht durch das Prisma von Bidens Besuch in Warschau im Jahr 2023 zu betrachten. Damals hätten viele Kommentatoren festgestellt, dass sich der Schwerpunkt in der europäischen Sicherheitspolitik durch den Krieg in der Ukraine unaufhaltsam nach Osten zu verschieben begann. Dies würde folglich auch den Beginn eines Prozesses der Veränderung des alten Kräfteverhältnisses zwischen den Staaten auf dem Kontinent bedeuten.
Seit diesem Besuch in Polen habe unser deutscher westlicher Verbündeter große Anstrengungen unternommen, um diesen neuen Trend zu stoppen und ihn letztendlich umzukehren. Tatsächlich sei dies der Hauptgrund für die Organisation des Treffens der "vier Mächte" in Berlin durch Scholz gewesen, der zeigen wollte, dass Berlin weiterhin über die Zukunft der europäischen Sicherheit entscheidet.
Wie üblich habe diese Art deutscher politischer Arroganz in Polen viele bittere Kommentare hervorgerufen und bekannte Ressentiments erneuert. Wahrscheinlich habe Polens wie immer emotionale Reaktion Berlin die erwartete Genugtuung verschafft. Tatsächlich jedoch könnte dieses unbestreitbare diplomatische Sieg Scholz' sich als Pyrrhussieg erweisen.
Deutschland unternehme viele Anstrengungen, um seine Position in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und in Europa wiederherzustellen. Die deutsche Presse sei voll von sensationellen Berichten darüber, dass verschiedene politische und wirtschaftliche Kreise in Deutschland neue Angebote an Moskau richten, um die alte Zusammenarbeit wieder aufzubauen. Doch all diese Bemühungen Berlins, die verlorene Hegemonialstellung aus der Zeit von Angela Merkel wiederzuerlangen, könnten das wahre Bild der Situation nicht verbergen.
Niemals in den letzten Jahrzehnten sei Deutschland in Europa so schwach gewesen wie heute. Die Zukunft der Beziehungen Deutschlands zu Amerika könnte bald recht blass aussehen. Die gegenseitige Faszination in den Beziehungen Berlins zu Moskau sei unwiderruflich verflogen. Und das Vertrauen in Deutschland in Europa werde schwer wieder aufzubauen sein. Daher erinnere dieser von Scholz inszenierte Auftritt in Berlin sehr an Andersens Märchen "Des Kaisers neue Kleider”, so Marek Cichocki in der Rzeczpospolita.
Rzeczpospolita: Demografischer Einbruch
Ihren Aufmacher widmet die Rzeczpospolita jedoch der Demografie, genauer gesagt dem demografischen Crash in Polen. Obwohl bisher insgesamt 305 Milliarden Złoty für das Sozialprogramm "Familie 500+" ausgegeben worden seien, alarmiert das Blatt, würde die Geburtenrate in Polen weiterhin sinken. Auch das Ausmaß der extremen Armut bleibe auf dem Niveau von vor der Einführung des Programms.
In einem offiziellen Bericht zur Umsetzung des Gesetzes über staatliche Unterstützung bei der Kindererziehung für das Jahr 2023, der dem Sejm vorgelegt wurde, räume die Regierung erstmals ein, dass das Programm, das seit Januar unter dem Namen "Familie 800+" läuft, in Bezug auf die Demografie gescheitert ist. Die zentrale These des Berichts laute: "Das Programm 'Familie 500+' hatte einen sehr begrenzten Einfluss auf die Geburtenrate: Es hat wahrscheinlich zu einem leichten Anstieg der Geburten in den ersten Jahren nach der Einführung der Leistung beigetragen."
In seinem Kommentar zu dem Thema fordert Bogusław Chrabota, dass man sich von der Illusion verabschieden müsse, die Polen mit einer Handvoll Silberlinge dazu bewegen zu können, Kinder zu bekommen. Das Programm "800+" sei eine Scheinmaßnahme, die eine rationalere Sozialpolitik verhindere und sollte daher aufgegeben werden. “Der Moment, in dem wir uns von dieser falschen und unfähigen Sozialpolitik verabschieden müssen, steht bevor. Man sieht ihn schon um die Ecke. Nur sieht man noch nicht, wer diesen Schritt wagen wird", so Chrabota.
Dziennik/Gazeta Prawna: Emissionspreise sinken, Staatshaushalt verliert Milliarden
Der schlechten Nachrichten damit nicht genug. Infolge der sinkenden Emissionspreise für CO2 verliere der polnische Staatshaushalt Milliarden, warnt das Wirtschaftsblatt Dziennik/Gazeta Prawna. Die europäischen Volkswirtschaften, lesen wir, würden weiterhin die Auswirkungen der Pandemie und des Krieges in der Ukraine spüren. Dies führe zu einem Rückgang der Preise für CO₂-Emissionszertifikate. Diese variable Abgabe habe eine bedeutende Einnahmequelle für den polnischen Staatshaushalt dargestellt – zumindest solange die Preise hoch waren. Während im Großteil des letzten Jahres für die Emission einer Tonne Kohlendioxid etwa 90 Euro zu zahlen gewesen seien, seien es jetzt aber nur rund 65 Euro.
Laut Finanzminister Andrzej Domański bedeute dieser Preisrückgang, dass dem polnischen Haushalt 8 Milliarden Złoty weniger zufließen werden als ursprünglich geplant. Für die privaten Haushalte habe dies keine unmittelbare Bedeutung, da die aktuellen Stromtarife bis Ende nächsten Jahres gelten. In den darauffolgenden Jahren werden die Kosten für CO₂-Emissionen jedoch voraussichtlich deutlich steigen, so Dziennik/Gazeta Prawna.
Autor: Adam de Nisau