Ob unter dem Zarismus, der Sowjetunion oder im heutigen Russland – Moskau hat das Recht der Ukraine auf Souveränität nie wirklich anerkannt und ihre Unabhängigkeit stets als einen historischen Irrtum betrachtet. Gleichzeitig haben ukrainische politische und intellektuelle Eliten zeitweise mit Russland zusammengearbeitet und so zur imperialen Macht Moskaus beigetragen.
Ein Konflikt mit Wurzeln im 17. Jahrhundert
Um den aktuellen Konflikt zu verstehen, muss man in das 17. Jahrhundert zurückblicken. Im Jahr 1654 unterzeichnete der ukrainische Kosakenhetman Bohdan Chmelnyzkyj nach Jahren des Widerstands gegen die Diskriminierung im polnisch-litauischen Commonwealth den Vertrag von Perejaslaw, um militärischen Schutz beim Zaren zu suchen. Für Chmelnyzkyj war dies eine Allianz, keine bedingungslose Unterwerfung. Doch Moskau sah es anders – von Anfang an interpretierte es den Vertrag als ewige Unterordnung der Ukraine.
Dieses Ereignis bleibt bis heute ein zentraler Bestandteil der russischen politischen Mythologie, den der Kreml weiterhin propagandistisch ausschlachtet.
In der russischen Propaganda war die Ukraine nie eine eigenständige Nation, sondern stets der „jüngere Bruder“, der ohne Moskau nicht existieren könne. Dieses tief verwurzelte Überlegenheitsgefühl weist rassistische Züge auf. Über Jahrhunderte hinweg wurden Ukrainer als primitive Bauern dargestellt, die russischer Führung bedürften.
Das Erbe der Romanows und der Sowjets
Sowohl zaristische als auch sowjetische Herrscher verfolgten eine unerbittliche Russifizierungspolitik. Im 19. Jahrhundert verbot der Zarismus die ukrainische Sprache in Schulen und der Literatur, untersagte den Begriff „Ukraine“ und unterdrückte den ukrainischsprachigen Buchdruck. Ukrainer wurden als „Kleinrussen“ bezeichnet, ihre Sprache als bloßer Dialekt abgetan. Diese Politik hielt – mit kurzen Phasen der Lockerung – bis zum Zerfall des Russischen Reiches an.
Moderne Ideologen Putins versuchen noch immer, die Ukraine als „Kleinrussland“ darzustellen. Trotz der Repression widersetzten sich ukrainische Intellektuelle der Russifizierung sowohl unter der zaristischen als auch unter der sowjetischen Herrschaft.
Zwar förderte die UdSSR in den 1920er-Jahren kurzzeitig die „Ukrainisierung“, doch Stalin machte diese Politik schnell rückgängig. Ukrainische Kulturschaffende wurden in einer als „Hingerichtete Renaissance“ bekannten Säuberung eliminiert, während die Bauernschaft einer systematischen Vernichtung ausgesetzt war. Die von Stalin orchestrierte Hungersnot Holodomor (1932–1933) forderte etwa vier Millionen ukrainische Todesopfer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Ukraine unter der strengen Kontrolle Moskaus, obwohl die sowjetische Propaganda die UdSSR als „Brudergemeinschaft der Nationen“ darstellte. Jede Form des ukrainischen Unabhängigkeitsstrebens wurde brutal unterdrückt.
Der Zusammenbruch der UdSSR und die Unabhängigkeit der Ukraine
Der Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 bot der Ukraine die Chance auf echte Unabhängigkeit. Am 24. August 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit, und Polen war das erste Land, das den neuen Staat anerkannte.
Am 1. Dezember desselben Jahres stimmten 90,32 % der Ukrainer in einem Referendum für die Souveränität. Doch Russland gab seinen Anspruch auf die Kontrolle über die Ukraine nie auf.
In den 1990er-Jahren unterstützte Moskau pro-russische Politiker und schürte innere Konflikte. Bereits 1992 und 1994 versuchten pro-russische Separatisten, die Krim von der Ukraine abzuspalten. Unterdessen schwankte Kiew zwischen einer Annäherung an den Westen und der Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Moskau, was zu raschen politischen Wechseln führte – von pro-westlichen Reformern hin zu kremltreuen Marionetten.
Die Orange Revolution 2004: Der ukrainische Widerstand
Die Orange Revolution von 2004 markierte einen Wendepunkt. Die Ukrainer lehnten Moskaus Einfluss ab, als Kiew versuchte, die Präsidentschaftswahlen zugunsten des kremlfreundlichen Kandidaten Wiktor Janukowytsch zu manipulieren. Die Proteste führten zur Wahl eines pro-westlichen Präsidenten, woraufhin Russland sofort reagierte – mit Propaganda, wirtschaftlichem Druck und weiterer Infiltration der ukrainischen Politik. Dies ermöglichte es Janukowytsch, 2010 doch noch an die Macht zu kommen.
Janukowytsch: Moskaus Marionette
Unter Janukowytsch wurde die Ukraine zunehmend von Russland abhängig gemacht. Die Verteidigungsfähigkeit des Landes wurde systematisch geschwächt, und russische Agenten durchdrangen Staat und Gesellschaft.
Doch der Versuch, die Ukraine wieder unter Kreml-Kontrolle zu bringen, scheiterte, als Janukowytsch Ende 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU überraschend ablehnte – ein Schritt, der massive Proteste auslöste, bekannt als Euromaidan. Die Demonstrationen eskalierten, als die Behörden scharfe Munition gegen Demonstranten einsetzten und über 100 Menschen töteten. Im Februar 2014 floh Janukowytsch nach Russland.
2014: Der „kleine Krieg“ beginnt
Nach Janukowytschs Sturz ging Russland aggressiv vor. 2014 annektierte es die Krim und entfesselte den Krieg im Donbass. Damit endete endgültig Moskaus Täuschung, die ukrainische Souveränität zu respektieren.
Die seit dem 17. Jahrhundert bestehende Vorstellung, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei, wurde nun zur Triebkraft der Kreml-Militärstrategie. Russische Kriegspropaganda stellte die ukrainische Unabhängigkeit als westliche Verschwörung dar und sprach von der Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ – ein Codewort für die Zerstörung der ukrainischen Identität.
2022: Die Invasion in voller Breite
Am 24. Februar 2022 startete Russland eine groß angelegte Invasion der Ukraine und verletzte damit alle Normen des Völkerrechts. Die ideologische Begründung blieb dieselbe wie seit Jahrhunderten: Die Ukraine sei keine echte Nation. Russische Propaganda griff Narrative aus der Zeit Chmelnyzkyjs auf und behauptete, die Ukraine habe „immer zu Russland gehört“ und der Westen würde sie „zerstören“.
Gleichzeitig wuchs in der Ukraine die Überzeugung, dass Russland ein rückständiger, imperialistischer Aggressor sei.
Der groß angelegte Krieg gegen die Ukraine offenbarte die dunkelsten Seiten des russischen Imperialismus: die Entmenschlichung der Ukrainer, die Zerstörung von Städten, die Ermordung von Zivilisten und Kriegsgefangenen, Massendeportationen und eine Propagandamaschine, die selbst ihre offensichtlichsten Verbrechen leugnet.
Die russische Politik gegenüber der Ukraine ist nicht nur nationalistischer Natur – sie weist klare Elemente von Rassismus auf. Ukrainer werden in Putins Rhetorik als Untermenschen dargestellt, als „genetischer Müll“ oder „Verräter der russischen Welt“. Für den Kreml ist die Ukraine nicht nur eine „rebellische Provinz“, sondern eine existenzielle Bedrohung, die vernichtet werden muss.
Wird die Ukraine siegen?
Geschichte lehrt uns, dass Imperien fallen, wenn sie sich der Realität verweigern. Russland, gefangen in einer imperialen Denkweise des 19. Jahrhunderts, kann nicht akzeptieren, dass die Ukraine eine unabhängige Nation ist.
Doch egal, wie der Krieg endet – eines ist sicher: Russland hat die Ukraine für immer verloren. Und die Geschichte wird einst diejenigen richten, die sie zerstören wollten.
Autor: Sławomir Sieradzki